"Lieber leben": Plötzlich radikal anders

14.12.2017, 09:00 Uhr

© Neue Visionen

So schnell kann es gehen. Ein unglücklicher Kopfsprung in ein zu leeres Becken, und das Leben ist anders – und zwar wirklich radikal anders. War er zuvor noch eine höchst agile Sportskanone, ist der junge Ben (Pablo Pauly) nun fast völlig gelähmt. Diese ohnehin entsetzliche Situation wird durch die ungeschickte Krankenschwester Christiane (Anne Benoît) und den stets vor unangemessen guter Laune sprühenden Pfleger Jean-Marie (Alban Ivanov) nicht gerade gemildert. Und wie soll man die viele Zeit, die man nun hat, in einer solchen Lage eigentlich rumbringen?

Ben lernt Leidensgenossen wie Toussaint (Moussa Mansaly), Farid (Soufiane Guerrab) und Steeve (Franck Falise) in der Klinik kennen. Von ihnen lernt er schnell Strategien, "die Zeit zu ficken". Für den jungen Studenten gibt es immerhin Aussicht auf Besserung, was für die meisten anderen Patienten nicht gilt. Ist es für viele Menschen eine furchtbare Vorstellung, an einen Rollstuhl gefesselt zu sein, so ist es für die Hauptfigur ein riesiger Fortschritt, einen Rollstuhl benutzen zu können. Was dann auch euphorisch gefeiert wird.

Nun ist Ben voller Hoffnung. Doch eine Ärztin erklärt ihm, dass er nie wieder ein völlig normales Leben führen wird und sich von seinem Traumberuf Sportlehrer verabschieden muss. Eine Welt bricht für ihn zusammen. Auch eine andere Hoffnung bekommt starke Risse. Die hübsche Mitpatientin Samia (Nailia Harzoune), in die sich Ben verliebt hat, hat einen sehr dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit. . .

"Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist keinesfalls zufällig", heißt es zu Beginn. In der Tat: "Lieber leben" ist die Verfilmung des in Deutschland noch nicht erschienenen autobiografischen Romans des in Frankreich sehr populären Poetry-Slammers und Musikers Grand Corps Malade ("Großer kranker Körper"). Er führte gemeinsam mit Mehdi Idir auch Regie und war am Drehbuch beteiligt. Sein Künstlername bezieht sich natürlich auf die Folgen eines schweren Unfalls, bürgerlich heißt er Fabien Marsaud.

"Lieber leben" ist ein fein gespielter und mit typisch französischer Leichtigkeit inszenierter Film, der aber die massiven Probleme und Belastungen nie beschönigt. Der Zuschauer kann sich bestens in Ben hineinversetzen. Die Inszenierung greift geschickt die jeweilige Stimmung des mit lebensnahen Dialogen ausgestatteten Films auf. Einige etwas langatmige Passagen erweisen sich als durchaus sinnvoll, um die erzwungene Passivität zu vermitteln.

Ein ehrlicher Film, der genug Selbstbewusstsein hat, um auf übliche Unterhaltungsbedürfnisse zu pfeifen – und der auf ungeschönte Weise sogar besinnlich ist. Damit passt er wesentlich besser zur Adventszeit als die üblichen vorweihnachtlichen Kino-Schmalzstullen. (F/111 Min.)

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