"Zwei Herren im Anzug": Heimat, böse Erinnerung

22.3.2018, 09:00 Uhr

© Marco Nagel, X-Verleih

"Bevor‘s a andrer macht, da mach ich‘s lieber selber" — so beschreibt Sepp Bierbichler auf seiner Promotion-Tour durch Kinos zwischen Andechs und Berlin den Werdegang seines Films. Kein Wunder, dass gleich nach Erscheinen seines wuchtigen Romans "Mittelreich" die Produzenten anklopften. Aber diese von eigenen Erinnerungen und Recherchen rund um sein Dorf am Starnberger See gefütterte Abrechnung mit einem ganzen deutschen (bayerischen) Jahrhundert, gesponnen über drei Generationen, kann er wohl wirklich selbst am besten in Bilder bringen. Drehbuch, Regie, mehrere Rollen: Josef Bierbichler gelingt das souverän und mit den erwarteten Eigenheiten, mit seinem Sohn Simon Donatz hat er auch noch sein eigenes Abbild in jung im Ensemble.

Bigotterie und Selbstmitleid

Eine Familiengeschichte in jeder Hinsicht also? Nein, das ist "Zwei Herren im Anzug" nicht, und das macht diesen etwas anderen Heimat- Film so durchschlagend, beeindruckend und schön: Er erzählt aus der Sicht einer bäuerlichen Familie von den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, die mit dem ersten Weltkrieg beginnen und mit der Anschaffung eines Traktors in den Wirtschaftswunderjahren noch lang nicht enden.

Bierbichler musste seine 400 Romanseiten kräftig eindampfen, einige Figuren, die mit ihrer skurrilen Andersartigkeit dort ganze Erzählstränge und Sympathiekurven tragen, sind leider weggefallen. Dafür steht das Verhältnis des Hoferben Semi (Donatz) zu seinem Vater Pankraz (Bierbichler), der aus seiner Bigotterie und seinem latenten Nazitum genauso wenig entkommt wie aus seinem Selbstmitleid, im Mittelpunkt. Die Szenen, in denen die beiden sich nach dem Leichenschmaus für die Mutter quasi verbal duellieren, die Sichtweise und Erinnerungen des anderen jeweils mit wenigen Sätzen auseinandernehmen, sind das tragende Gebälk des mehr als zweistündigen Films. "Ich muss mich erinnern!" sagen beide immer wieder. Gerade, weil‘s weh tut. Aber das Miteinander- und Über-sich-selbst-Sprechen hat keiner gelernt in dieser Dorfwelt, in der jeder zwischen Pflichterfüllung, gesellschaftlichem Druck und den eigenen Träumen und Traumata gefangen ist.

Pankraz übernimmt Wirtschaft und Hof unfreiwillig, weil sein Bruder mit Kopfschuss und psychischem Schaden aus dem Krieg heimkehrt. Er selbst muss im nächsten Krieg dann Fürchterliches tun, darüber sprechen kann er nicht, Rückblenden lassen es den Zuschauer erst ahnen, dann wissen. Erst ganz am Ende wird klar, wer die titelgebenden "Zwei Herren im Anzug" sind.

Pankraz’ Frau Theres (der Martina Gedeck Wärme und die Zähigkeit zum Widerstand verleiht) ist für den Sohn Semi der einzige Anker, sie hält die Familie und später auch den Betrieb am Laufen, als der alte Pankraz in seiner Sinnsuche, seiner Sehnsucht und in der Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit versinkt.

Surreal und mystisch

Dazwischen hat Bierbichler grandiose Bilder für die verdrängten Emotionen gefunden: Immer wieder der See, meist stürmisch oder zugefroren (und vom Nürnberger Film-Professor Jürgen Schopper, Spezialist für digitale Nachbearbeitung, mystisch überhöht), bietet den Hintergrund für Wagner-Arien; die Gasthaus-Küche ist der Ort, wo die entscheidenden Auseinandersetzungen ausgetragen werden; Schwarzweiß-Szenen zeigen urtümliches Bayern-Bauernleben mit beklemmender Note, und die alte Mare fährt ganz leibhaftig zum weiß-blauen Himmel wie auf den Bildern in bayerischen Barockkirchen. All das ist nicht chronologisch sortiert, sondern mit energischem Rhythmus komponiert und oft auch witzig.

Wenn der jugendliche Semi beim Anblick der Sau am Haken unweigerlich an den Klosterbruder denkt, der bei der sehr speziellen Privat-Turnstunde im Internat geil vor ihm an den Ringen hing, ist das sau-komisch und schnürt einem zugleich den Hals zu. Der Nachkriegs-Faschingsball mit der in Gasthaus einquartierten Frau Baronin als lasziver Hitler-Wiedergeburt wird zum Hexensabbat. Schockierend und poetisch zugleich zeigt Bierbichler schließlich den verbitterten Sohn nicht nur am, sondern nackt im Totenbett seiner siechen Mutter: Große surreale Filmkunst mit Heimatsound und Heimat-Sehnsucht. (D/139 Min.)

Verwandte Themen


Keine Kommentare