Für sein Hobby brachte er fünf Menschen um

17.2.2015, 20:37 Uhr
Für sein Hobby brachte er fünf Menschen um

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Mit einem gestohlenen Fürther Wagen fährt er zum Tatort mitten in die Nürnberger Innenstadt. Im Bekleidungshaus Brenninkmeyer am Weißen Turm entreißt er im Gewühl einer Kundin die Handtasche. Ein 35-jähriger Hausmeister und ein Gastwirt beobachten die Szene und stellen sich ihm in den Weg. Da zieht der junge Mann eine Waffe, zielt in die Herzgegend des Hausmeisters und tötet ihn mit zwei Schüssen, verletzt mit einer weiteren Kugel den Gastwirt schwer.

Planlos geballert

Niemand kann den Täter stoppen, denn auf seinem Fluchtweg durch die Breite Gasse ballert er plötzlich aus zwei Pistolen gleichzeitig und planlos um sich. Mindestens ein Passant wird getroffen. Und auch der Täter trägt Blessuren davon, denn immer wieder stürzen sich Menschen auf ihn, versuchen, seiner habhaft zu werden, doch er kann sich jedes Mal losreißen. Erst einige hundert Meter weiter können ihn zwei Polizisten und zwei beherzt zugreifende Fußgänger überwältigen und fesseln.

Für sein Hobby brachte er fünf Menschen um

Der 24-Jährige kommt in Untersuchungshaft, und niemand ahnt, dass der jungenhaft wirkende Mann 50 Jahre lang das Gefängnis nicht mehr verlassen wird. Denn die Ermittler haben keine Ahnung, wen sie vor sich haben. Der Festgenommene verweigert jede Angabe. Erst Emmeram Daucher, der legendäre Chef der Nürnberger Mordkommission, kann das Geheimnis Zug um Zug lüften. Es sei sein „Fall der Fälle“ gewesen, sagt Daucher später fränkisch-bescheiden, als Zeitungen längst vom größten Kriminalfall in der deutschen Nachkriegsgeschichte schreiben.

Die Art und Weise der Schießerei, die Waffen, die Brutalität — plötzlich sieht die Kripo eine Verbindung zu drei weiteren Mordfällen zwischen 1962 und 1965. Nürnbergs Kriminaldirektor Horst Herold, der später als Präsident des Bundeskriminalamtes die Fahndungsmethoden revolutionierte, kann schon am 10. Juni 1965 mit Sicherheit sagen: „Zwischen der Schießerei in der Breiten Gasse und den Überfällen von Neuhaus, Ochenbruck sowie im Doppelmordfall Hannwacker bestehen objektiv bewiesene Zusammenhänge“.

Gefährlicher Griff in die Jacke

Die Polizei stellt die Taten nach — als der 24-jährige an den Schauplätzen vorgeführt wird, halten Polizisten ihre Hände abzugsbereit an den Dienstwaffen. Danach steht fest: Der Täter aus dem Kaufhaus Brenninkmeyer ist der Mittagsmörder.

Der Mann, der am 10. September 1962 Punkt zwölf Uhr den Leiter der Sparkassenfiliale in Ochenbruck mit drei Pistolenschüssen ermordet und 3060 Mark erbeut hatte.

Ein Lagerhausverwalter war Ende 1962 das nächste Opfer: Der schwerhörige 51-Jährige hatte in der Sparkasse in Neuhaus von dem Raubüberfall zunächst gar nichts mitbekommen und in aller Ruhe ein Formular ausgefüllt. Als er in seine Brusttasche griff, um seine Brille einzustecken, tötete ihn der Mittagsmörder aus sechs Metern Entfernung mit vier Schüssen aus einer P 38. Im gestohlenen Wagen floh der Täter mit 5000 Mark Beute.

Schießeisen und schnelle Autos: Dafür mordete er. In einem Nürnberger Waffengeschäft streckte er 1963 die Besitzerin und ihren Sohn zur Mittagszeit nieder. Schon als 18-jähriger Oberschüler soll er nach Erkenntnis der Ermittler ein Ehepaar bei einem Raubüberfall erschossen haben. Dieses Vergehen jedoch wurde nie vor Gericht verhandelt, denn die Justiz beschränkte sich auf seine Taten, die er als Erwachsener (damals war man das erst mit 21 Jahren) begangen hatte.

„Er tötete, nur weil er ein neues Auto wollte. Er brauchte es nicht. Er tötete um eines Hobbys willen. Ein niederträchtigeres Motiv ist schlechthin nicht mehr denkbar“, sagte der Nürnberger Landgerichtsdirektor Karl Kristl am Ende eines spektakulären Prozesses in der Urteilsbegründung am 27. Juli 1967. Wegen fünffachen Mordes wurde der Mann, der Nahe Nürnberg aufgewachsen ist, lebenslang in Strafhaft geschickt.

Es wurden fast 50 Jahre. Auch wer eine „lebenslange“ Strafe, habe nach der Gesetzeslage ein Recht darauf, dass die Vollstreckung seiner Freiheitsstrafe irgendwann zur Bewährung ausgesetzt wird, erinnert Richter Michael Hammer, Sprecher des Nürnberger Gerichts. Auch beim Mittagsmörder wurde das überprüft, doch niemand wollte es verantworten.

Er sei freundlich und angenehm im Umgang, sagt man in der Justizvollzugsanstalt Straubing, wo der Mittagsmörder die meiste Zeit einsaß. Er spielt dort Geige und singt im Chor, las Nietzsche und Schopenhauer, schrieb ein Buch. Doch er sei weiter gefährlich, zeige keine Reue, attestierten ihm lange Gutachter.

Test in der neuen Welt

Vor drei Jahren nun verwies das Bundesverfassungsgericht auf das Übermaßverbot, und der Strafsenat des Nürnberger Oberlandesgerichts folgte daraufhin einer Expertise, die zu dem Schluss kam, dass Vollzugslockerungen, wie Freigang oder Urlaub beim Mittagsmörder grundsätzlich verantwortbar seien.

Seitdem wird der ältere Herr, der einen Herzinfarkt überstanden hat, auf sein neues Leben vorbereitet. Man habe mit ihm geübt, wie man Geld von der Bank abhebt und in einem Supermarkt einkauft, Autos betankt, versichert man in Straubing.

Denn als der schmale Mann hinter Gitter kam, holte man seine Waren noch bei Tante Emma, Scheckkarten, Handys und Internet waren noch längst nicht erfunden. Der Bundeskanzler hieß Ludwig Erhard und in Nürnberg fuhr noch keine U-Bahn.

Die „Erprobungsphase“ habe gut funktioniert, sagt Gerichtssprecher Hammer, der geplanten Freilassung stehe nichts mehr im Wege.

Der 74-Jährige soll am 1. März in einem Wohnheim unterkommen, wo er von Sozialarbeitern betreut wird, denn auf „intakte familiäre Bindungen“ könne er nicht zurückgreifen, lautet die Auskunft der JVA. Wo das sein wird, gibt die Justiz nicht preis, „mit Rücksicht auf den Resozialisierungsprozess“, sagt Hammer. Der Mittagsmörder aber wünscht sich Kontakt zur Außenwelt, vor allem zu seinen alten Schulkameraden. In einem Brief an unsere Hersbrucker Redaktion schrieb er vor einem Jahr: „Ich habe mich vollkommen geändert.“

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