„Ich bin ein Teil der deutschen Kultur“

9.11.2011, 20:00 Uhr

Herr Kaminer, Sie schreiben, die Deutschen seien zwar sehr aktiv und beflissen, aber sie täten alles ohne Herz, aus bloßem Interesse. Ist Ihr Buch der Versuch, die deutsche Seele zu ergründen?

Wladimir Kaminer: Mein Buch ist gleichzeitig lustig und ernst, dennoch bleibt es eine Liebeserklärung an dieses Land. Deutschland ist trotz all seiner Schwächen sehr lebenswert und hat eine spannende Zukunft vor sich. Deutschland hat sogar das Zeug dazu, die Postulate meiner Heimat zu erfüllen. In meiner sowjetischen Fibel stand: „Internationalismus ist die Zukunft der Menschheit. Nationalismus ist ihre Sackgasse.“ Das alles kann Deutschland in der EU als wahre europäische Werte etablieren. Das Potenzial dazu habe ich im Bewusstsein der Bevölkerung entdeckt.

Dennoch bezweifeln Sie in Ihrem Buch, dass die Deutschen jemals vorhatten, Fremde zu integrieren. Wird Ausländern hierzulande die Integration schwer gemacht?

Kaminer: In Deutschland wurde die Problematik der Integration von Anfang an von der falschen Seite angegangen. Man hat versucht, alle über denselben Kamm zu scheren und allen die sogenannte Leitkultur anzubieten. Integration wäre eigentlich Aufgabe der Kulturpolitik, aber diese funktioniert in Deutschland nur in begrenztem Maße. Meine Heimat, die Sowjetunion, war eine Vogelscheuche für alle freien Länder dieser Welt, aber gleichzeitig hatten wir eine ausgeprägte Kulturpolitik.

Was war das Geheimnis der sowjetischen Kulturpolitik?

Kaminer: Wir hatten die multikulturelle Gesellschaft verwirklicht. Das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker funktionierte durch die ständige Förderung von innen. Dazu sollten Schriftsteller oder Wissenschaftler unbedingt ihren Beitrag leisten. In der heutigen, viel einfacher gestrickten Gesellschaft, in der das Geldverdienen quasi als einziger Sinn und Zweck des Zusammenlebens gepriesen wird, mangelt es leider an Kulturpolitik. Dennoch trägt Deutschland viel mehr sozialistische Züge in sich als die Sowjetunion früher.

Woran machen Sie das fest?

Kaminer: Am Bewusstsein der Bevölkerung und an den Problemen, die hier diskutiert werden. Dabei geht es nicht in erster Linie ums Geldverdienen, sondern um Ökologie und Nachhaltigkeit. Die ökologische Komponente wird bald die Politik ersetzen, weil man sie in allen Lebensbereichen proklamiert. Auch wird hier versucht, schwächeren Ländern zu helfen und ihre Eigenarten zu berücksichtigen.

Sie beobachten Deutschland seit 20 Jahren, haben einen deutschen Pass.

Kaminer: Und trotzdem bleibe ich ein Ausländer. So fühle ich mich auch viel wohler, denn man sieht mehr als Außenstehender. Ich würde sogar das Ausländersein als Schulpflichtfach einführen. Jeder sollte mal ein halbes Jahr in der Fremde gewesen sein.

Das Goethe-Institut hat Sie nach Australien und Singapur geschickt. Fühlen Sie sich bei solchen Lesereisen als Botschafter der deutschen Kultur?

Kaminer: Das ist mir ein zu pathetisches Gefühl, aber ich bin tatsächlich als Botschafter der deutschen Kultur unterwegs. Ende November fliege ich nach Mexiko. Deutschland ist dieses Jahr Schwerpunkt der südamerikanischen Buchmesse. Die Mexikaner haben sich aus der deutschen Literatur eben „Russendisko“ ausgewählt. Danach machen wir eine Reise durch amerikanische Universitäten. Die dortigen Germanisten haben sich ebenfalls mich gewünscht. Ob ich es will oder nicht: Ich bin zu einem Teil der deutschen Kultur geworden.

Haben Sie schon mal den Karneval oder das Oktoberfest besucht?

Kaminer: Ich habe immer einen großen Bogen um diese Veranstaltungen gemacht. Ich mag Köln und München sehr, aber die Gigantomanie dieser Feste mit diesen riesigen Biergläsern ist ein Ausdruck von Provinzialität.

„Zur Erleichterung der Verwaltung des öffentlichen Lebens erfanden die Amerikaner den Colt und den elektrischen Stuhl, die Russen das Destilliergerät und die Deutschen den Aktenordner“, spotten Sie in Ihrem Buch. Wie kommen Sie mit der deutschen Ordentlichkeit klar?

Kaminer: Das ist gar kein Spott. Ich habe zu diesem Thema recherchiert: Die Bundeswehr gibt allein für Klarsichthüllen jährlich Millionen aus. Damit könnte man sämtliche Schüler Afghanistans versorgen. Die Russen hingegen haben Mappen. Aber das Papier zählt bei uns nicht viel. Es gilt mehr die mündliche Absprache.

Sie schreiben, die deutsche Bevölkerung würde dem Staat und der Politik aufgrund schlechter Erfahrungen misstrauen. Wie viel Vertrauen haben Sie in den deutschen Staat?

Kaminer: In Russland ist ein Kompromiss zwischen Staat und Bevölkerung nicht mehr möglich. Und in Deutschland, das sehe ich jeden Tag, wackelt der Kompromiss zwischen Bürgertum und Finanzwelt. Diese Situation ist aber auch eine große Chance. Ich glaube, dass das politische Deutschland, das mehrmals schon am Abgrund stand und geteilt und wiedervereinigt wurde, aus dieser Situation eines Tages erneuert herauskommen wird.

Wladimir Kaminer: Liebesgrüße aus Deutschland. Manhattan Verlag, München, 288 S., 17,99 Euro.