In Reichelsdorf trainieren harte Jungs im Freien

16.6.2014, 15:05 Uhr
In Reichelsdorf trainieren harte Jungs im Freien

© Michael Matejka

Okaaay! Das hat dann mit einem normalen Klimmzug nur noch wenig zu tun. Bekir Dülger zieht sich langsam an der Reckstange hoch, mal mit der einen, mal mit der anderen Hand. Die Beine streckt er dabei gerade nach vorn oder er bewegt sie so, als würde er im Zeitlupentempo eine Strickleiter emporsteigen. Schweißperlen tropfen von der Stirn, die Oberarmmuskeln zittern. Dann hüpft der 22-Jährige nach unten und lacht vergnügt, als wäre dieser Kraftakt die leichteste Sache der Welt.

Spaziergänger, die in letzter Zeit am Bewegungspark unterhalb der Thomas-Kolb-Brücke vorbeikommen, werden wohl ebenso staunen. Lauter muskelbepackte Jungs, tätowiert meist noch dazu, die der Reihe nach Handstand, einhändig oder sogar aufeinander Liegestützen machen, oder sich mit coolem Gesichtsausdruck an einer Stange in die Waagerechte begeben. „Ist das hier ’ne Gang oder so was?“, wird der ein oder andere sich fragen. Keine Angst, die „453“-Workoutler wollen nur trainieren und das durchaus ernsthaft. Sie haben endlich etwas gefunden, was ihnen wirklich Spaß macht — und Halt gibt.

Vorbild für Jüngere

„Hier in Reichelsdorf gibt es für junge Leute nicht viele Möglichkeiten“, meint Dülger. Klar, dass mancher da auch auf blöde Gedanken komme oder auf eine schiefe Bahn gerät. Viele hier haben es selbst erlebt. „Meine Eltern haben sich scheiden lassen, ich hatte ein Alkoholproblem und mich öfters geprügelt, weil ich nicht wusste, wie ich mit meinen Aggressionen umgehen soll“, erzählt Djamal Djibrilla (24). Durch den Sport in der Gruppe habe er ein positives Ventil gefunden. „Man hat ein Ziel und auch eine Vorbildfunktion“. Denn immer mehr jüngere Sportler stoßen zu der Gruppe dazu, der Jüngste ist 15. Das ist durchaus gewollt. Jeder, der Lust hat, kann und soll mitmachen, auch Mädels. „Wir können so die Kids, die kein Geld fürs Fitnessstudio haben oder sich nicht dorthin trauen, von der Straße holen“, sagt Djibrilla.

Das Wir-Gefühl spornt an. Da ist Mehmet Özbagdat (25), der vor eineinhalb Jahren noch 50 Kilo mehr gewogen und nun ein Vorzeige-Sixpack hat. „Das alles hat mein Leben verändert“, sagt er stolz. Auch der 24-jährige Denis Tomic hat hier ordentlich Selbstbewusstsein getankt. Er drückt es so aus: „Der Zusammenhalt in der Gruppe ist echt gut für die Psyche.“

Ohne es zu merken, haben sich die Streetworkouter irgendwie selbst zu ihren eigenen Streetworkern gemacht, mit nachhaltigem Erfolg. An die wenigen Regeln — kein Alkohol, keine Drogen und Zigaretten auf dem Trainingsgelände, keine künstlichen Mittelchen zum Muskelaufbau — würden sich alle auch ohne verbindliche Unterschrift halten. Welche Nationalität jemand hat, interessiert hier niemanden, die Schwerkraft sei für alle schließlich gleich. „Pull up your life“ ist ihr Motto, was so viel bedeutet wie „Zieh dein Leben hoch“.

Kontakt per Facebook

Seit ihrer Gründung Anfang 2013 hat die Reichelsdorfer Workout-Gruppe enormen Zulauf, über Facebook kommunizieren und dokumentieren sie ihre Trainings. Fast 750 „Gefällt mir“-Klicks haben sie bereits gesammelt.

Calisthenics ist keine neue Erfindung. Einfache Turnübungen wie Klimmzug, Liegestütze, Kniebeugen und Barrenstütze sind die Basis. Um Kraft und Beweglichkeit zu trainieren bedienen sich die Sportler ihres Eigengewichts. Deshalb benötigen sie keine Hanteln und kein Fitnessstudio, ein paar Stangen, ein Brückenpfeiler oder Geländer (zur Not auch mal ein Verkehrsschild), tun’s auch. Trainieren kann man also immer und überall, diese Idee ist das Neue an der Sache.

In Reichelsdorf trainieren harte Jungs im Freien

© Michael Matejka

Die Trendsportart hat sich in den Straßen der New Yorker Bronx entwickelt, etabliert und schwappte zunächst nach Osteuropa über. Im letzten Jahr gab es erstmals im nordrhein-westfälischen Xanten eine deutsche Meisterschaft.

Einmal an einem Kontest teilnehmen, das wäre auch für die „453“Mitglieder eine große Sache. Um bessere Trainingsbedingungen zu bekommen („ein Barren und eine stabilere Reckstange würden genügen“), haben sie sich dem Bürgerverein Reichelsdorf-Mühlhof angeschlossen. Der ist gerne bereit, die Trendsportler zu unterstützen und hat bereits zu Sportbürgermeister Clemens Gsell Kontakt aufgenommen.

Geklärt werden muss allerdings noch, ob unterhalb der ThomasKolb-Brücke noch genug Platz für zusätzliche Trainingsgeräte ist. Durch Spenden des Vereins „Reichelsdorfer und Mühlhofer Weihnachtsmarkts“ ist auf dem Gelände in den letzten Jahren bereits ein Bewegungspark entstanden.

Den etwas abgelegenen Standort fänden die Straßensportler ideal. „Es gibt Schatten und wir würden niemanden stören“, sagt Djamal Djibrilla ganz vernünftig. Und: „Na ja, wir hätten Publikum“, fügt er grinsend hinzu und deutet nach oben zum Fußgängerweg auf der Brücke. Okay, ein bisschen Selbstdarstellung gehört einfach dazu und sei erlaubt — bei den Muskeln!

Der Name „453“ bezieht sich übrigens auf die letzten drei Ziffern der Reichelsdorfer Postleitzahl. Kontakt über: www.facebook.com/453workout

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