Alle sind Opfer und Täter

20.4.2015, 20:05 Uhr
Alle sind Opfer und Täter

© Foto: Katharina Lütscher

Wie brüchig unsere alltäglichen Sicherheiten sind, wie unzuverlässig das Bild, das wir von uns selbst machen, das erfährt der Arzt Etan Grien auf brutale Weise: Als er nach dem Krankenhaus-Dienst aus Anspannung und Langeweile mit dem Jeep durch die Wüste rund um Ber Sheva düst, überfährt er einen Flüchtling aus Eritrea. Der Arzt sieht, dass dem Schwerverletzten nicht mehr zu helfen ist, und begeht Fahrerflucht.

Doch er entkommt der Tat nicht. Eine Frau steht tags darauf vor seiner Tür, mit seinem Geldbeutel samt Pass in der Hand, und fordert ihn auf, mit ihr in eine verlassene Werkstatt in der Wüste zu fahren. Dort erwarten ihn Scharen von kranken illegalen Einwanderern, die er ab sofort nach Dienstschluss heimlich und unter schlimmsten Bedingungen behandelt . . .

Ayelet Gunda-Goshen hat mit ihrem Vorgänger-Roman „Eine Nacht, Markowitz“ die literarische Welt aufhorchen lassen, er wurde von der BBC verfilmt. „Löwen wecken“ enttäuscht die Erwartungen an die 34-Jährige nicht: Es ist ein furioser Roman über das Fremdsein im eigenen Leben, über Schuld und Vergebung und über den Umgang mit Flüchtlingen, nicht nur in Israel. Dass die Autorin Psychologie studiert hat, merkt man ihrer Geschichte an, die immer wieder die Perspektive wechselt: Etan, der von seinem Gewissen schwer geplagte Todesfahrer, empfindet bald die erotische Anziehungskraft von Sirkit, der Eritreerin mit dem undurchdringlichen Blick, die sein Schicksal in der Hand hat und ihn Abend für Abend zwingt, seine Frau, seine Kinder, seinen Chef zu belügen und die illegalen Flüchtlinge zu behandeln.

Weitere Raffinesse gewinnt die Geschichte dadurch, dass Etans Frau als Polizistin auf den Fall des toten Eritreers angesetzt ist und auf ganz andere Spuren kommt. Es geht plötzlich auch um Ausbeutung von Flüchtlingen, um die Arroganz der Israelis gegenüber den kleinkriminellen Beduinen und wiederum deren menschenverachtenden Umgang mit den Einwanderern aus Afrika.

Eine Tragödie

Gundar-Goshen entwirft so mit leichter Hand, soghafter Erzählweise und großartig gezeichneten Figuren ein ganzes Gesellschaftsbild. Jeder dieser Menschen hat Schuld — mal mehr, mal weniger bewusst — auf sich geladen. Wie in einer griechischen Tragödie geht es um Liebe, um Macht und Schicksal und die richtige Entscheidung in einer Zwickmühle. Auch Sirkit, die starke Erpresserin, ist Opfer und Täter zugleich. Im Grunde sucht jeder sein kleines Stückchen vom Glück, und alle merken, dass sie es nicht bekommen können, ohne dabei anderen zu schaden.

Mal ist es der jugendliche Beduine, der in der Gang des Drogendealers aufsteigen will, mal Etans Frau, die nicht fassen kann, dass sie sich so in ihrem Mann getäuscht haben sollte, mal Etan selbst, der auf einen rettenden Ausweg lauert. Man wünscht ihn ihm.

In klaren, oft poetischen Bildern schildert die Autorin, wie Gut stets auch Böse ist. Ein beeindruckendes, wunderbar geschriebenes Buch!

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken. Aus dem hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber Verlag Zürich, 432 Seiten, 22.90 Euro.

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