Botschafterin einer humanen Medizin

23.5.2012, 07:00 Uhr
Botschafterin einer humanen Medizin

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Sie war die letzte Überlebende der Beobachterkommission im Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 und die erste, die ein Buch zum Thema „Euthanasie“ verfasste: Das Standardwerk „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ erschien erstmals 1948, verschwand aber schnell wieder in der Versenkung – weder die deutschen Leser noch die Ärzteschaft waren damals bereit, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

50 Jahre nach dem Ärzteprozess war sie 1996 Präsidentin bei dem Nürnberger Kongress „Medizin und Gewissen“. Damals wurde sie als Zeitzeugin und Botschafterin einer humanen Medizin wiederentdeckt, zu Diskussionen in ganz Europa eingeladen und ein Jahr später mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Alice Ricciardi-von Platen, eine Verwandte des fränkischen Dichters August von Platen, hat sich Zeit ihres Lebens mit Euthanasie-Verbrechen und der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in der Ärzteschaft beschäftigt. In ihrem langen, bewegten Leben spiegelt sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Reinhard Schlüter hat zahlreiche Gespräche mit Verwandten, Bekannten und Weggefährten geführt, er durfte die Tagebücher und persönliche Korrespondenz auswerten und hat umfangreiches Archivmaterial gesichtet. Auf diese Weise konnte er die Biographie einer emanzipierten Frau rekonstruieren, die ihrer Zeit in mancherlei Hinsicht voraus war, obwohl sie einer längst verschwundenen Adelswelt entstammte.

Als sie 1910 im Schloss Weissenhaus in Ostholstein geboren wurde, war Deutschland noch ein Kaiserreich, in dem Militär und Adel die Schlüsselpositionen besetzten. Die Familie von Platen-Hallermund pflegte einen feudalen Lebensstil, den sie sich eigentlich nicht mehr leisten konnte. Schon bald wanderte die Mutter mit ihren drei kleinen Töchtern zu Verwandten nach England aus.

Es ist der Beginn eines rastlosen Wanderlebens. Von 1923 bis 1928 wird Alice von Platen Internatsschülerin in Schloss Salem – zeitgleich mit Golo Mann, mit dem sie befreundet war. Danach studierte sie in Heidelberg, München, Freiburg, Königsberg, Kiel und Berlin als eine von nur wenigen Frauen Medizin.

Die Zeit der Nazi-Diktatur verbrachte die junge Ärztin, die sehr früh die verhängnisvolle politische Entwicklung und die Folgen der Rassenideologie für die Medizin erkannt hatte, überwiegend in Italien und Österreich. Sie musste sich als alleinerziehende Mutter (ihr Geliebter war verheiratet) inzwischen auch um ihren kleinen Sohn kümmern.

Nach Kriegsende kam sie dann im Auftrag der deutschen Ärztekammern als Protokollantin zum Ärzteprozess nach Nürnberg, wo sie im „Wirtshaus zum Schlachthof“ wohnte. Später emigrierte sie nach London, Brüssel, Tripolis und Rom. Italien wurde zur zweiten Heimat für die deutsche Ärztin, die mit einem italienischen Homosexuellen verheiratet war und erst relativ spät als Psychoanalytikerin Erfolg hatte. Im Rentenalter machte sie sich dann vor allem mit der Therapie von Großgruppen einen Namen.

Bis zuletzt war Alice Ricciardi-von Platen ständig auf Reisen und beruflich tätig. Am Ende schloss sich in Nürnberg, wo die alte Dame in den letzten Jahren häufig zu Gast war, ein Kreis. Im Rahmen der Lesung zeigt die Nürnberger Filmemacherin Ullabritt Horn auch erstmals Ausschnitte aus ihrer geplanten Dokumentation „Am Abgrund der Seele“.

Reinhard Schlüter: Leben für eine humane Medizin — Alice Ricciardi-von Platen. Campus Verlag, Frankfurt. 261 Seiten, 29,90 Euro.
 

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