Claude Lanzmann wird 90

26.11.2015, 16:45 Uhr
Claude Lanzmann wird 90

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Claude Lanzmann ist einer der geist- und eindrucksvollsten Intellektuellen der SartreSchule, wenn man so will – einer der ältesten „Neffen“ aus dem Hofstaat des Jahrhundert-Philosophen vom Montparnasse. Er war aber nicht nur einer der engsten Freunde von Jean-Paul Sartre, sondern er war auch über sieben Jahre der Lebensgefährte der 15 Jahre älteren Simone de Beauvoir, mit der er zwei Jahre sogar auf engem Raum gutbürgerlich zusammengelebt hat. Allein schon diese Leistung im „juste milieu“ der „Philosophie der Freiheit“ mit ihrem linksliberalen Moraldünkel gilt es zu bestaunen.

Sein jüngstes Werk, dessen Titel an den Taucher auf dem berühmten Fresko im süditalienischen Paestum erinnert, versammelt eine Fülle von Reportagen, Erzählungen, Porträts und politisch kämpferischen Artikeln, die er seit 1947 vor allem für die von Sartre gegründete Zeitschrift Les Temps modernes verfasst hat – was ihn nicht davon abhielt, auch für konkurrierende Blätter zu schreiben. Das Bild vom Taucher scheint der eigenen Stilisierung durchaus zu entsprechen. Denn wie das alles anfing und sich bis in unsere Tage weiterentwickelte, umkreist die Spanne eines abenteuerlichen Lebens, das seinesgleichen sucht.

Am Abend des Lebens

Es hat etwas von einem Abschiednehmen, wenn Lanzmann schon im Vorwort aus Victor Hugos Gedicht „Der Schlaf des Boas“ die Zeilen zitiert: „Allein bin ich, es sinkt der Abend mir herab, und meine Seele neigt, o Herr, sich auf das Grab, so wie des Ochsen Haupt zur Wasserkühle strebt.“ Er sieht sich am Lebensabend spiegelbildlich als Taucher, der seine Entscheidungen im Leben traf wie „Kopfsprünge, Sturzflüge ins Leere…“

Die Texte, die Claude Lanzmann ausgewählt hat, zeigen einen Autor, der fesselnd schreiben kann, sich in jede Polemik stürzt, dabei eine Lebensfreude und Vitalität ausstrahlt, die von plastischer Ausdrucksweise und präziser Sprachhaltung geprägt ist. Das gilt für seine oft brillant geschriebenen Porträts des Pantomimen Marcel Marceau oder der Schauspieler Richard Burton und Jean-Paul Belmondo.

Lanzmann hat als schreibender Reporter viel Prominenz aus der Nähe erlebt, mit den einzelnen gesprochen, sie ausführlich interviewt – unter anderem auch die unglückliche einstige persische Kaiserin Soraya. Daraus sind engagierte Texte entstanden, sensibel, rücksichtsvoll, ohne jedes geschmäcklerische Gehabe.

Auch seine Reportagen zeichnen sich durch klare Position und Parteinahme aus, wie man sie heutzutage kaum noch zu lesen bekommt. Etwa in dem Text über einen katholischen Priester, der in einem Dorf seine heimliche Geliebte samt Fötus ermordet und vor Gericht zu lebenslanger Haft begnadigt wird – aus der Sicht von Lanzmann eine Kapitulation vor der Kirche.

Die Geschichte des „Priesters von Uruffe“ wühlte in den fünfziger Jahren ganz Frankreich auf, das sich erst in den Achtzigern endgültig von der Todesstrafe verabschiedet hatte.

Die Reportagen über „Die Flucht des Dalai Lama“ und den ersten Besuch eines Papstes – Paul VI. – in Israel zeigen, wie empfänglich Lanzmann für die Andersartigkeit religiöser Grundstimmung seinerzeit war. Eindrucksvoll schildert er, wie der Dalai Lama, „in einer violetten Mönchsrobe, auf dem Pony sitzend, ein letztes Mal die heilige Stadt und seinen Palast, den Potala“ betrachtet. Da ist nichts, nicht einmal ein Seufzen, nichts Finsteres in seinem schönen göttlichen Blick…“

Auf der Seite Israels

Und der Autor, der sich als Kind noch scheute, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen, macht aus seiner Anteilnahme am Schicksal des Staates Israel kein Hehl. Den Staat der Juden hat er immer verteidigt gegen alles und jeden, auch gegen Sartre, dem er klar machte, dass die Juden nicht auf die Antisemiten gewartet hätten, um zu existieren, dass die Israelis ein Volk seien, das trotz Pogromen, Verfolgung und dem Holocaust auf seine Art ein Subjekt der Geschichte geworden sei.

Im Alter mag sich Lanzmann von manchen Emotionen innerlich entfernt haben. Doch der Völkermord an den europäischen Juden hat ihn damals wie heute nicht losgelassen:“ Ich bin von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiß ich nur zu gut, würden mich nicht müde machen.“

Claude Lanzmann: Das Grab des göttlichen Tauchers. Ausgewählte Texte. Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara. Rowohlt Verlag, Reinbek. 543 Seiten, 26,95 Euro.

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