Das Genie aus Planquadrat F 3,5

19.5.2006, 00:00 Uhr
Das Genie aus Planquadrat F 3,5

Mozart in Mannheim: der Gasthof «Prinz Friedrich“ und der «Pfälzer Hof“ am Paradeplatz, das Schloss, das Hoftheater, die Hofkirche (heute Jesuitenkirche), das Haus des Intendanten Heribert von Dalberg bzw. das des Fridolin Weber (Vater von Aloysia und Constanze, ab 1782 Mozarts Schwiegervater) sind Gebäude, die für diese Aufenthalte stehen. Insgesamt vier Mal war Mozart in der Stadt, die sein Vater Leopold in einem Brief vom 3. August 1763 als «wegen ihrer Regularität ungemein schön“ beschrieb. In diese Stadt, die damals als Zentrum der «Mannheimer Schule“ der Nabel der musikalischen Welt war, setzte Wolfgang Amadé bezüglich einer Anstellung am kurfürstlichen Hof große, letztlich aber vergebliche Hoffnungen.

Die von Vater Mozart gepriesene «Regularität“ der Stadt verdankt diese ihrem Grundriss: Ausschließlich parallel geführte bzw. rechtwinklig aufeinander treffende Straßen und Gassen lassen eine Ansammlung von Quadraten entstehen, die schon im 18. Jahrhundert durchnummeriert wurden. So befand sich das Haus des Hofkammerrats Serrarius auf dem Grundstück 934 im 57. Quadrat, das seit dem Traitteur’schen Plan von 1810 als F 3,5 zu lokalisieren ist. In diesem Hause war Mozart mit seiner Mutter 1777/1778 mehrere Monate zu Gast.

Mein Elternhaus stand in J 2,22, fünf Gehminuten von F 3,5 entfernt. Allerdings waren seit Mozarts Aufenthalt fast 190 Jahre vergangen, wie also könnte ich mich ihm nähern?

Zugegebenermaßen stellte sich mir diese Frage in meiner Kindheit nicht. Bis in die 70er Jahre waren mir Gruppen wie Emerson, Lake & Palmer oder Pink Floyd näher und wichtiger als Bach, Wagner oder eben Mozart. Im Lauf der Zeit aber nahmen die Begegnungen mit Mozarts Werk zu: die «Wiener Sonatinen“ im Klavierunterricht, die Besprechung der «Entführung aus dem Serail“ in der Schule, eine Studienfahrt nach Salzburg, Aufführungen von «Zauberflöte“, «Figaro“, «Don Giovanni“ und «Cosi fan tutte“ im Rahmen des Schülerabonnements am Mannheimer Nationaltheater. Oder das Mitsingen bei Aufführungen von «Requiem“ und «c-moll-Messe“ in der Mannheimer Johanniskantorei. Ich begann zu staunen.

Es sollte weitergehen: Auch evangelische Kirchenmusiker studieren nicht nur Bach und nicht ausschließlich geistliche Musik. Das d-Moll-Klavierkonzert KV 466 im Klavierunterricht, die Sprecherszene aus der «Zauberflöte“ und das Finale des 2. Akts des «Figaro“ im Dirigierunterricht waren Teil meines Studiums in Heidelberg. Ich staunte weiter, und viele weitere Berührungen sollten folgen, die mir Mozart näher brachten.

Es wäre jedoch vermessen, würde ich behaupten, Mozart zu verstehen. Zwar kann ich die auf das Vorbild Bachs zurückgreifende kontrapunktische Meisterschaft von Adagio und Fuge c-Moll (KV 546) oder die harmonischen Raffinessen im 2. Satz der B-Dur-Klaviersonate (KV 333) analysieren. Damit allerdings weiß ich lediglich, wie diese Musik komponiert ist, nicht aber, was sie tatsächlich aussagt oder warum sie mich so berührt. Die Frage bleibt: Warum ist der Einsatz des Solo-Soprans im Kyrie der großen c-moll-Messe zum Weinen schön?

Mozarts Musik, die mir als so selbstverständlich begegnet, als könnte sie gar nicht anders sein — Mozarts Musik, die scheinbar so leicht entstand und die noch im Adagio vor Energie sprüht. Freude, Trauer, Angst, Wut … - all das kann ich beim Hören empfinden. Mozarts Werk bewirkt und erhält in mir eine der höchsten kindlichen Gaben: das Staunen.

Das Jahr 2006 begreife ich als Chance. Das allgemein große Interesse an Mozart ermutigt mich, in der Lorenzkirche neben der großen c-Moll-Messe (KV 427) auch Anderes, weitgehend Unbekanntes in Gottesdienst und Konzert aufzuführen. Es wird wohl ein Jahr vielfacher und vielfältiger Begegnungen mit Mozarts Werk. Darauf freue ich mich und vielleicht verlieren 190 Jahre Abstand zwischen F 3,5 und J 2,22 weiter an Gewicht. Matthias Ank

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