Der Fußball und die Zeit

15.6.2016, 11:50 Uhr
Der Fußball und die Zeit

© Abb: FVA

Das Coverbild des Bändchens hat Jean-Philippe Toussaint vor Jahren selbst fotografiert. Ein Foto wie ein Programm. Der belgische Schriftsteller lichtete im japanischen Kyoto eine Frau an einem Restauranttisch ab. Sie hat gegessen, das Handy zugeklappt, spricht angeregt mit jemanden, der nicht zu sehen ist. Und hinter ihr läuft auf einem riesigen Bildschirm ein Fußballspiel.

„Als Ganzes betrachtet“, philosophiert Toussaint, 58, „handelt es sich bei Fußball um verderbliche Nahrung, sein Verfallsdatum setzt unmittelbar ein. Man muss ihn sofort verzehren, so wie Austern, Meeresschnecken, Langustinen oder Garnelen. Man muss ihn in aller Frische genießen, in der Stärke des Moments und der Hitze des Jetzt. Fußball altert schlecht, er ist ein Diamant, der nur im lebendigen Heute hell glänzt.“

Franzosen lieben solche Einlassungen. Sie nennen Toussaint den „Proust im Stadion“, staunen, was er alles aus dem scheinbar banalen Thema destilliert – das Buch ist in Frankreich ein Bestseller. Joachim Unseld hat es in anmutiger Sprache ins Deutsche übersetzt. Toussaint jedoch weiß, dass es nichts für jedermann ist. „Dieses Buch wird niemandem gefallen“, resümiert er, „den Intellektuellen nicht, die sich nicht für Fußball interessieren, den Fußballliebhabern nicht, die es zu intellektuell finden werden.“

Es ist dennoch das anrührendste Buch zur EM: das Bekenntnis einer Liebe zum Balltreten, zum Kampf auf dem Feld, zum Wahnsinn der Spieler, sich bis zum Letzten zu verausgaben. Ein Fußballmatch lasse „augenblicklich jede Angst vor dem Tod verfliegen“. Indes: Dem Fußball Abgewandte werden die Faszination nicht nachvollziehen können, aber auch für sie hat der Autor einige interessante Gedanken parat.

Toussaint verbindet kleine Essays zum Sport mit autobiografischen Erzählungen und der Beschreibung der 90 oder mehr Minuten Zeitenthobenheit. In Wahrheit schreibt er über Verfall, Gebrechen und Tod – und wie der Fußball das wegtreibt. „Ich tue so, als schriebe ich über Fußball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit.“ Die Zeit ist letztlich die wichtigste anthropologische Komponente des Menschen, der mit jedem Tag mehr altert und dem Tod entgegengeht.

Mit seiner Fußballliebe reduziert er seine Angst vor der Vergänglichkeit. Er spielt das Spiel mit, hadert mit der Taktik des Trainers, erfreut sich an gelungenen Flanken und den magischen Momenten, wenn der Ball die Torlinie überquert. Der Fußball hält die Zeit an, wenn auch nur ein bisschen. Fifa-Gangster, Korruption und der Irrsinn, dass Spitzenfußballer wie Sklaven einen Preis haben, in Millionen gemessen, das alles interessiert diesn Autor nicht.

Toussaint sucht den Kick. 2014 war er auf Korsika, als das Match Argentinien gegen die Niederlande stattfand. Er verfolgte das Spiel übers Streaming, fluchte über die verpixelten Bilder — und als es zum Elfmeterschießen kam, fiel das Bild aus. Höchststrafe, ein Gewitter hatte die Stromzufuhr gekappt. Toussaint kroch auf allen Vieren durchs dunkle Haus, fand ein transistorbetriebenes Radio und einen italienischen Sender, so dass er noch mitbekam, dass die Argentinier ins WM-Finale einzogen. Ein unvergleichlicher Glücksmoment.

Jean-Philippe Toussaint: Fußball. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 126 Seiten, 17,90 Euro.

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