Die Wahrheit ist relativ

6.7.2016, 19:56 Uhr

Wie lebt es sich, wenn man das „Gewissen eines Landes ist“, wenn die Leute sich in moralischen Belangen nach der eigenen Meinung richten? Offenbar nicht sehr angenehm. Zumindest, wenn man Javier Mallarino fragt. Der ist der berühmteste Karikaturist Kolumbiens und kann mit seinen Zeichnungen Bürgermeister zum Rücktritt bringen oder Ministerien erschüttern. Und dennoch ist der ältere Herr, die Hauptfigur im Roman „Die Reputation“ von Juan Gabriel Vásquez, nicht glücklich.

Melancholisch verbringt er seine Tage außerhalb von Bogotá in einem Landhaus. Doch dann verändert sich für den 65-Jährigen alles. Nach einer großen Ehrung im Nationaltheater bittet ihn eine junge Frau, die vorgibt, Journalistin zu sein, um ein Interview. Doch als sie zu ihm kommt, stellt sich heraus: Als Siebenjährige war sie mit Mallarinos Tochter Beatriz befreundet und hatte sie besucht. Doch was widerfuhr dem Mädchen in diesem Haus? Sie kann sich nicht erinnern. Kunstvoll baut Vásquez ein Gebäude rund um das Thema Erinnerung auf, zeigt verschiedene Arten zu erkennen und zu verdrängen. „Kümmerlich ist das Gedächtnis, das sich nur nach rückwärts wendet.“

An jenem Tag gab Mallarino eine Party, auf der uneingeladen ein Abgeordneter namens Cuellar auftauchte. Er kam, um den Cartoonisten anzubetteln, ihn nicht mehr so bösartig zu karikieren. Mallarino war der schleimige Typ zuwider. Beatriz und ihre Freundin Samanta hatten heimlich Alkoholreste getrunken und waren total blau. Darum hatte Mallarino die Kinder in sein Bett gelegt. Dort erwischte dem Anschein nach später Samantas Vater den Abgeordneten Cuellar in einer verfänglichen Pose.

Aus Wut und Ekel zeichnete Mallarino am nächsten Tag ein Bild von Cuellar, das nicht direkt von Missbrauch sprach, aber den Mann in einen Zusammenhang mit Pädophilie rückte. Der beging Selbstmord.

Fragen nach der Wahrheit

Der Fall schien klar, niemand trauerte dem Widerling nach. Aber als jene Samanta plötzlich als erwachsene Frau von Mallarino wissen will, was damals geschah, erwachen Zweifel. Was, wenn der große Moralist Mallarino einen falschen Verdacht in die Welt gesetzt und damit einen Menschen in den Tod getrieben hat? Und was soll aus Mallarinos Reputation werden, wenn er so einen Fehler offen zugibt? Mallarinos Macht, die nur aus Papier und Tusche bestand, zerfließt.

Juan Gabriel Vásquez, 1973 in Bogotá geboren, wird von einigen schon als Nachfolger von Gabriel García Márquez gehandelt. Doch er verzichtet auf die berühmten Untiefen seines großen Vorbilds und bleibt der Realität verhaftet. Darum lässt er sich auf die Unsicherheiten der menschlichen Wahrnehmung, auf die Verzerrungen des Gedächtnisses voll ein. In der zerrissenen Figur des Mallarino spiegelt er gekonnt den kolumbianischen Alltag, die platten etablierten Medien, die Oberflächlichkeit, die Angst vor dem Gerücht. Er will die Gewalt und Grausamkeit seines Landes entschlüsseln, wenn er schreibt: „Das Vergessen war das einzig Demokratische in Kolumbien.“

„Die Reputation“ von Juan Gabriel Vásquez. Schöffling Verlag, 185 Seiten, 19,95 Euro

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