Diesem Glück entgeht man nicht

19.2.2017, 19:18 Uhr
Diesem Glück entgeht man nicht

© Foto: Staatstheater/ Ludwig Olah

Wie müssen wir uns Wozzeck heute denken, wo finden wir diesen verstörenden und verstörten Antihelden, den Georg Büchner in seinem Dramenfragment in die Welt geschickt hat und der durch diese läuft "wie ein offenes Rasiermesser"?

Alban Berg hat daraus eine der erfolgreichsten und künstlerisch überzeugendsten Literaturopern des 20. Jahrhunderts gemacht. Bei deren Premiere am Samstag im Opernhaus versetzt Georg Schmiedleitner diese Fallstudie über einen instabilen Menschen, der zum Opfer einer ihn erniedrigenden und ihn zu Experimenten missbrauchenden Gesellschaft wird, in die Gegenwart.

Bühnenbildner Stefan Brandtmayr hat drei nüchterne, abstrakte und bewegliche Würfel geschaffen, Sinnbild für eine dieser aseptischen Neubau- oder Vorortviertel, in denen Wohnraum immer enger und teurer wird. Kartons von Onlinehändlern stapeln sich bis unter die Decke, die dazugehörigen Mahnungen hängen an den Wänden der nur karg möblierten Würfel. Deren Umgebung ist seelenlos grau oder blau illuminiert und wird hin und wieder von einer abwechselnd shopping- oder feierwütigen Gesellschaft bevölkert.

Vor allem aber symbolisiert der Bühnenraum die große Leere aus Konsumüberfluss und Prekariat, in der weder Wozzeck, noch seine Frau Marie, noch sein kleiner, mit autistischen Zügen versehener Junge Halt finden.

Von der kleinen Garnisonsstadt am Anfang des 19. Jahrhunderts ins Heute ist das ein Sprung von rund 200 Jahren. Deshalb verdingt sich Wozzeck auch nicht mehr als Laufbusche und Frisör für den Hauptmann. Nein, dieser putscht sich inzwischen mit Tabletten auf und lässt sich von Wozzeck auspeitschen, ein bisschen Sado-Maso à la "Fifty Shades of Grey" muss schon sein in dieser tristen Welt.

Marie in der Mädelsclique

Marie ist Teil einer Prosecco schlürfenden Mädelsclique, stramme Militärs paradieren nicht mehr durch die Straßen, sondern werden von den Frauen via Smartphonevideos goutiert. Derweil ist aus dem leibhaftigen Tambourmajor ein Goldsackoträger geworden, ein windiger Lebemann, genauso billig wie der riesige, sich immer wieder herabsenkende Schriftzug im Jahrmarktsstil: "Glück" verspricht er in überdimensionalen, mit vielen Glühbirnen versehenen Lettern – das große, nicht greifbare Ziel, dem die ganze traurige Gesellschaft, die die unsere ist, hinterherjagt.

Nur der Doktor mit seinen Menschenexperimenten hat den Zeitsprung nicht so ganz geschafft, er lässt seine Probanden immer noch "Erbsbrei" (Schmiedleitner hat die "Bohnen" der Oper richtigerweise wieder durch Büchners "Erbsen" ersetzt) essen. Eine Diät, die einst Justus Liebig für billiges Soldatenessen ausprobierte und die längst als derart giftig bekannt ist, dass sie für Wozzecks Wahnvorstellungen ebenso verantwortlich ist wie für seinen kaum zu bremsenden Harndrang.

Doch diesen medizinisch-naturwissenschaftlich höchst interessanten Ansatz verfolgt Schmiedleitner – wie fast immer in der Rezeptionstradition dieser Oper – nicht weiter. Ihn interessiert der soziale Niedergang Wozzecks, für den er in den auf drei Akte verteilten 15 Szenen eindrucksvolle Bilder findet – gipfelnd in der so lapidaren wie sinnlosen Ermordung Maries in einem dieser Wohnwürfel. Leider ein Klassiker: der Tod im häuslichen Umfeld, ein Täter aus dem sozialen Nahbereich.

Schmiedleitner gibt den wichtigsten Personen dieser Fallstudie ein klares Profil. Zuallererst Jochen Kupfer in der Titelpartie: Sein Wozzeck ist so sensibel wie verunsichert. Schwere Gedanken, die er nur wirr formulieren kann, kreisen in seinem Kopf; seiner Frau, die ihn bald mit dem Tambourmajor betrügen wird, begegnet er linkisch, sein kontaktgestörtes Kind überfordert ihn. Da kann Kupfer nicht nur mit allen Facetten seines ausdifferenzierten Charakterbaritons brillieren, auch spielerisch bringt er eine Meisterleistung.

Marie dagegen verbirgt ihre Wünsche und Enttäuschungen unter einer – oft typisch weiblichen – ruhigen Oberfläche, um dann ihre unterdrückten Emotionen umso eruptiver ausbrechen zu lassen. Katrin Adels Sopran hat in den grellen Höhen der Lebenslust wie der Verzweiflung Maries die besten Momente.

Doktor mit düsteren Prognosen

Den Doktor macht Schmiedleitner zu einer finsteren Figur, der die Menschen mit düsteren Prognosen verunsichert und selbst an halbtoten Patienten seine Versuche durchexerziert, Jens Waldig gibt ihm die nötige Basstiefe, getreu dem Büchner’schen Motto "jeder Mensch ist ein Abgrund".

Der kann auch mal flach sein wie der Tambourmajor (Tilmann Unger mit einer schönen Portion Tenorschmelz), der hier als windiger Verführer daherkommt.

Oder eben überdreht und süchtig nach Aufputsch- und Auspeitschmitteln wie der Hauptmann: Hans Kittelmann liefert mit markantem Tenor das Porträt eines Getriebenen der Leistungsgesellschaft.

Die feiert in streng definierten Zeitfenstern – mit einem von Tarmo Vaask punktgenau disponierten Chor – und durch die kleinen Würfel grotesk vergrößert wirkend so eruptiv wie aggressiv. Und ergötzt sich sogar an Blut in Weinflaschen. Die optisch geschärften Proportionen finden ihre Entsprechung in Alban Bergs hochkonzentrierter Partitur, in der die musikalischen Formen auf engsten Raum nicht aufblühen, sondern förmlich explodieren. Gábor Káli am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg hat dafür die richtige Hand, Bergs Musik wird zum emotionalen Katalysator, zum Treibstoff für die rasch zur Katastrophe drängende Handlung.

Hoffnung ist nicht in Sicht. Im von Matthias Stubenvoll disponierten und von Alfred Mayerhofer wie kleine Erwachsene gekleideten Kinderchor steht die nächste Generation schon bereit. Wozzecks verstörter, nun so mutter- wie vaterloser Junge wird ihr nächstes Opfer sein, die Menschlichkeit und das Glück bleiben der fernste Ort auf dieser Erde.

So etwas wie einen Lichtblick gibt es in diesem "Wozzeck" nicht, dafür 100 starke, sehens- und hörenswerte Minuten Oper. Langer und einhelliger Applaus.

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