Ein Narr tanzt auf der Weltbühne

23.10.2017, 11:09 Uhr
Ein Narr tanzt auf der Weltbühne

© Foto: Anestis Aslanidis

Mit der Geschichtsschreibung ist das so eine Sache. Meist werden die Triumphe und Niederlagen von den Siegern erzählt, während die Verlierer stumm bleiben. Oft werden Ereignisse mit großem zeitlichen Abstand berichtet, und wie alles wirklich geschah, werden wir vielleicht nie erfahren. Allerdings: Wer weiß schon, was wahr ist?

Das Schöne ist: An Daniel Kehlmann neuem historischen Roman "Tyll" ist grundsätzlich eigentlich gar nichts wahr, und das weiß man immerhin von vorne herein. Trotzdem bringt der Autor, der mit "Die Vermessung der Welt" über die Forscher Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß im Jahr 2005 einen Welterfolg landete, dem Leser die Welt von vor 400 Jahren eindringlich nahe.

Dass die historischen Tatsachen hier einigermaßen ver-rückt sind, fängt schon damit an, dass Kehlmann die Figur des Till Eulenspiegel, der angeblich im 14. Jahrhundert lebte, in die Zeit des 30-jährigen Krieges (1618 bis 1648) versetzt, als ein verheerender Kampf um die Vorherrschaft in Europa tobte. Und Tyll Ulenspiegel ist mittendrin. Natürlich nicht als Soldat. Sondern als Zeitzeuge, als Narr und Gaukler vor dem Volk und an den Höfen. Nachdem sein Vater als Hexer angeklagt und hingerichtet worden ist, verlässt Tyll sein Dorf, die Bäckerstochter Nele an seiner Seite: Auch ein Akt der Rebellion und der Freiheit. Der rätselhafte, dürre junge Mann perfektioniert seine artistischen Fähigkeiten, tanzt bald auf dem Seil und verblüfft auch mit allerlei anderen Fertigkeiten. "Der Junge scheint nicht aus dem gleichen Stoff gemacht wie andere Menschen", sagte einst sein Vater über ihn.

Meisterliche Jonglage

So wie Tyll in meisterlicher Weise mit Bällen und Messern jongliert, so jongliert auch der 42-jährige Autor mit Zeitebenen, Erzählperspektiven und nicht zuletzt der Sprache, die einfach wirkt und doch wahnsinnig raffiniert komponiert ist: Altbacken kommt sie nie daher und ist doch leicht durchzogen von einem herrlich altertümlichen Duktus.

In acht Kapiteln wirft Kehlmann Schlaglichter auf eine immer noch mittelalterlich geprägte Zeit. Tyll Ulenspiegel ist weder Held noch "richtige" Hauptfigur, sondern das verbindende Glied in diesen fantastischen Geschichten, in denen einerseits brutal realistisch von Hunger, Tod, Misshandlung und Gewalt erzählt wird, andererseits auch von Geisterbeschwörern, Drachen und einem sprechenden Esel, von dem man sich bis zum Schluss fragt, ob er nun tatsächlich reden kann, oder ob das wieder nur einer von Tylls listigen Tricks ist.

Ein klassischer Historienroman ist das freilich nicht. Die Zeitumstände hat Kehlmann allerdings akribisch recherchiert, sein Buch ist zudem von allerlei historischen Persönlichkeiten bevölkert. So tauchen etwa Friedrich V., der als Winterkönig in die Geschichte einging, und seine Frau Elizabeth Stuart auf. Mit seiner Entscheidung, die böhmische Krone anzunehmen und sich gegen den Kaiser zu stellen, löste er den 30-jährigen Krieg mit aus.

Friedrichs Tod gehört zu den berührendsten Momenten in diesem Roman. Nur wenige Sätze braucht Kehlmann dafür. Sein ganzer Text ist voll von vermeintlich Nebensächlichem, von kleinen empathischen Szenen, mit denen das große Panorama einer Epoche entworfen wird, die uns so fern und dann wieder erschreckend nah ist: Ja, natürlich kann man Parallelen zu heute (Schlagworte: Europa am Scheideweg, Krieg zwischen den Religionen, ja sogar der Klimawandel) ziehen, muss man aber nicht. Dieser genial erzählte, soghafte und unterhaltsame Roman steht für sich allein.

ZDaniel Kehlmann: Tyll. Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 474 Seiten, 22,95 Euro.

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