Ein Sohn auf den Spuren des verstummten Vaters

20.7.2015, 18:18 Uhr
Ein Sohn auf den Spuren des verstummten Vaters

© Foto: dpa

„Überdunkelt von seiner Vergangenheit“ war dieser Mann. Also schwieg er. Doch jeder, der ihm begegnete, spürte, dass er „Eindringlicheres gesehen hatte und mehr wusste vom Leben, als er sagen konnte, und der ahnte: Selbst wenn er die Sprache dafür hätte, würde es keine Erlösung geben.“

So begegnet der Leser diesem Walter Urban auf den ersten Seiten von Ralf Rothmanns Roman „Im Frühling sterben“: Einem Verstummten, der sich einigelt, der sich mit Alkohol betäubt, der nicht reden will und kann über das, was er erlebt hat. Und doch beginnt mit diesem Schweigen seine Geschichte, die der Sohn nun erzählt – um dem Vater die Last der Erinnerung zu nehmen, doch auch, um sich selber von den Ahnungen zu befreien, Klarheit zu schaffen über ein seelisches Erbe, über eine Schuld vielleicht. Rothmanns verstörend ergreifendes Buch ist vor allem eine Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen.

1945, in den letzten Kriegstagen, werden im untergehenden Deutschland auch die jüngsten Männer eingezogen und als Kanonenfutter an die Front geschickt. Walter und Fiete gehören dazu. Sie sind Melker auf Gehöften im Norden und mit einer Mischung aus stinknormalem Schiss und einer zynischen Lebensnonchalance lassen sie sich wegkarren an Frontziele, die schon längst verloren sind. Ob das ein Abenteuer wird oder eine Reise ohne Wiederkehr, wissen sie nicht. An ihren Kragen haftet plötzlich das „SS“-Symbol und Vorgesetzte bläuen ihnen ein: „Wo wir sind, da ist der Endsieg.“ Fiete sieht es anders: „Na, scheiß drauf! Komm, lass uns sterben gehen.“

Rothmann beschreibt den Weg dieser Jugendlichen, die völlig unpolitisch schuldig werden, zu den letzten Schauplätzen der sinnlosen Schlachten. Es ist ein Weg durch Niemandsland, durch verlassene und zerbombte Dörfer im Osten, vorbei an Leichen der Einheimischen, an gehängten Deserteuren der eigenen Truppe, durch eine zerstörte Welt, die für diese halben Kinder keine Zukunft mehr bereit hält: „Wenn man Glück hat, ist Sterben ein Fingerschnippen.“

Rothmanns Sprache ist da von einer seltsam poetischen Kälte, einer fast ängstlichen Distanz, er schaut mit den Augen der unfreiwillig Neugierigen auf die Reste einer Zivilisation, die nun auch endgültig auszuradieren befohlen wird. Dabei geht es fast nie um Weltpolitisches, um Ideologien, um Verblendung durch Parolen, sondern allein um die niederschmetternden Erlebnisse, um das Nichtbegreifen-können einer brutalen Wirklichkeit, in die diese Jungen geworfen wurden: „ . . . und schwarz verkohlt und rauchend im Regen lagen die Leichen der beiden Hitlerjungen auf der Frühsaat. Krähen hockten in den Bäumen.“

Es sind Bilder der Verzweiflung und Grausamkeit, die lange nachwirken. Roth-mann (Jahrgang 1953) hat, ohne die Gnade seiner Nachkriegs-Geburt in Anspruch zu nehmen, einen an die Nieren gehenden Anti-Kriegsroman geschrieben, wie es an Intensität Vergleichbares in Deutschland nach 1945 (seit Paul Celan oder Arno Schmidts „Leviathan“ vielleicht) nicht gegeben hat.

Und als ob die Furcht um die eigene Existenz nicht schon verzehrend genug ist, wird Walter dem Erschießungskommando zugeteilt: an der Wand steht sein blutjunger Kumpan Fiete, der sich lächerlich schuldig gemacht hat: „Ein Durchschuss ließ die Erde hochspritzen. Schwarzdrosseln flogen vom Acker auf, und schneller, als sich die Verblüffung über die jähe Wucht der Einschläge in seinem Gesicht abzeichnen konnten, sackte Fiete ein Stück weit in die Knie, stand plötzlich o-beinig da. Wie es Kinder tun bei einem unerwarteten, bislang nie erlebten und nicht für möglich gehaltenen Schmerz, riss er den Mund weit auf, hielt die Augen aber geschlossen. Etwas Atem entwich den Einschusslöchern.“

„Ruhezeit abgelaufen!“

Walter Urban, der Überlebende ohne Lebenswillen, der, den man nicht fragte, ob er krepieren oder existieren will, wird im brüchigen Frieden nie mehr Fuß fassen. Das Erwachende in den Trümmerfeldern gleitet an ihm vorbei, er funktioniert nurmehr ohne Antrieb und mit den Szenen der Apokalypse, die den Kopf martern, mehr schlecht als recht. Sein Sohn wird das Verdrängte hervorholen, wenn es für den Vater schon zu spät ist. Was treibt ihn an, Jahrzehnte später, die Zeiten minutiös zu rekonstruktieren? Auf den amtlichen Papieren, die der Sohn auf der Suche nach dem Grab seiner verschwundenen Familie in den Händen hält, stehen zwei Worte, lapidar, quälend: „Ruhezeit abgelaufen!“

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Suhrkamp Verlag, Berlin. 234 Seiten, 19,95 Euro.

Verwandte Themen


Keine Kommentare