Jonathan Franzens "Freiheit"

15.9.2010, 06:29 Uhr
Jonathan Franzens

© dpa

Fast könnte man meinen, die Literatur habe an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen: Jonathan Franzen ist überall. Das Time Magazine widmete dem 51-jährigen Schriftsteller eine Coverstory. Präsident Obama wurde im Urlaub auf Marthas Vineyard mit einem Exemplar des neuen Franzen-Romans gesichtet, noch bevor das Buch offiziell erschienen war. Sämtliche nationalen und internationalen Medien berichteten darüber und darüber, dass sämtliche nationalen und internationalen Medien darüber und über Jonathan Franzen berichteten. Der Mann hat ein Buch geschrieben. 730 Seiten über das Schicksal einer amerikanischen Mittelschichtsfamilie aus dem Mittleren Westen. Neun Jahre nach "Die Korrekturen", einem 780-seitigen Buch über das Schicksal einer amerikanischen Mittelschichtsfamilie aus dem Mittleren Westen. "Die Korrekturen" verkauften sich weltweit fast drei Millionen Mal.

"Freiheit" verfügt über die besten Chancen, diesen Rekord für einen zeitgenössischen literarischen Roman zu brechen. Wichtig ist der Zusatz literarisch. Denn, so wird man nicht müde, uns zu versichern, Jonathan Franzen sei eben nicht John Grisham und auch nicht J.K. Rowling (dabei ist die Franzen-Hysterie der Harry-Potter-Hysterie durchaus vergleichbar). Jonathan Franzen sei ein ernstzunehmender Autor, ein guter, ja ein genialer Autor und "Freiheit" ein epochales Werk. So zumindest der Tenor der amerikanischen Rezensenten. Das Echo im deutschsprachigen Raum fiel bisher kaum weniger positiv aus, obgleich man sich hierzulande für simple Elogen natürlich zu fein ist und deshalb das Urteil "toll" möglichst verklausuliert formuliert. In einem Punkt sind sich alle einig: Jonathan Franzen habe den klassischen Gesellschaftsroman zu neuem Leben erweckt. Tatsächlich tendierten viele Schriftsteller in den letzten Jahren zu kapriziösen Experimenten. Man verfasste Thriller mit Fußnoten und Liebesgeschichten in Form von Lexikoneinträgen. Jetzt kommt Franzen und knallt einem eine Art "Buddenbrooks" des 21. Jahrhunderts vor die Nase.

Psychologischer Realismus

"Freiheit" ist tief im psychologischen Realismus verwurzelt. Glaubwürdige Figuren führen darin glaubwürdige Dialoge über glaubwürdige Probleme und treiben eine glaubwürdige Handlung voran. Es werden keine obskuren Subkulturen erforscht, keine zweifelhaften Erzählperspektiven geschaffen, keine stilistischen Purzelbäume geschlagen. Bloß: Für die sogenannte Unterhaltungsliteratur gilt dasselbe. Dass Jonathan Franzen ein literarisches Werk vorlegt, dem jegliche Schrullen fehlen, sollte man also bitte nicht mit dem achten Weltwunder verwechseln. Im Zentrum von "Freiheit" stehen die Berglunds: Vater Walter, Mutter Patty und die Kinder Jessica und Joey. Der Roman spielt hauptsächlich in der Ära von Bush II, wobei auch ausführlich Rückblick gehalten wird auf die Berglunds der 1980er und 1990er Jahre in St. Paul, Minnesota. Geschildert werden die Geschehnisse abwechselnd aus der Sicht der einzelnen Akteure, jedoch in der dritten Person. Einen Teil des Romans stellt die "Autobiografie" dar, die Patty auf den Rat ihres Therapeuten hin schreibt - ebenfalls in der dritten Person. Die Ouvertüre des Romans bildet ein Porträt der Berglunds.

Es zeigt die Berglunds als neumodische Liberale der ersten Stunde, als Leute, die sich mit drängenden Fragen auseinandersetzen wie: "Waren die Pfadfinder politisch akzeptabel? Gehörte Bulgur wirklich auf die Speisekarte? Wohin mit alten Batterien? Was tun, wenn eine mittellose Frau anderer ethnischer Herkunft einen beschuldigt, man mache ihr Wohnviertel kaputt? (...) Sollte man Bettlern Essen geben oder besser gar nichts? War es möglich, beispiellos selbstbewusste, glückliche, hochintelligente Kinder großzuziehen, wenn man ganztags arbeitete? Durfte man die Bohnen für den Morgenkaffee schon am Abend vorher mahlen, oder musste das unmittelbar vor dem Frühstück geschehen? Walter arbeitet für eine Umweltschutzorganisation, Patty geht in ihrer Rolle aus Hausfrau und Mutter auf. Jessica ist das Muster-, Joey das Problemkind. Spätestens als Joey im zarten Alter von sechzehn Jahren bei seiner Freundin und deren republikanischem Anhang einzieht, beginnt der Zerfall des Hauses Berglund.

Walter verrät seine Ideale, indem er sich für giftgrüne Projekte der Energieindustrie einspannen lässt, Patty geht nicht mehr auf, sondern ein. Jessica bleibt dieselbe und Joey schmuggelt Waffen nach Irak. Kompliziert werden die Dinge durch Affären: Die Pattys mit einem Freund Walters aus Collegetagen, die Walters mit seiner jungen Assistentin. Den letzten Aufzug des Dramas orchestrieren wieder Berglundsche Nachbarn. Diesmal die in einer Neubausiedlung. Auf den hoffnungsvollen Auftakt folgt der Schwanengesang. Die Familie als Spiegelbild der Gesellschaft - dieser Trick hat schon oft funktioniert. Und Jonathan Franzen ist ein Meister seines Fachs. Ökoheuchelei und Technologiegläubigkeit, Pin-up-Pluralismus und persönliche Verantwortung - und eben "Freiheit" und ihre diversen Interpretationen: Franzen verleiht solchen abstrakten Begriffen eine literarische Gestalt. Er verwandelte soziale Phänomene in literarische Gestalten.

Satirischer Grundton

Auch "Freiheit" durchzieht ein satirischer Grundton wie schon "Die 27ste Stadt" (1988) und "Schweres Beben" (1992). Jonathan Franzen war nämlich schon Schriftsteller, bevor er zum Bestsellerautor wurde. Nur krähte damals kein Hahn nach ihm. Wird die Literatur von nun an die Welt verändern, weil Franzen ein paar Wochen lang in aller Munde war? Bestimmt nicht. Doch sollte jemand abends zu "Freiheit" greifen anstatt zum Fernsehprogramm, ist schon eine ganze Menge geschafft.
Jonathan Franzen: Freiheit. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Arbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek. 730 Seiten. 24,95 Euro.