Judith Hermann als kluge Beobachterin

27.6.2016, 19:07 Uhr
Judith Hermann als kluge Beobachterin

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Ganz egal, ob man sich schon lange kennt oder ob der Zufall dafür verantwortlich ist, dass sich Lebenswege kurz mal kreuzen: Wie sich die Begegnungen zwischen Menschen gestalten, was sie befördern oder bewegen, hängt von unendlich vielen Faktoren ab. Die 1970 geborene Judith Hermann ist eine Meisterin darin, solchen zwischenmenschlichen Berührungspunkten unaufgeregt und mit kluger Leichtigkeit ihre existenziellen Seiten abzugewinnen.

Und auch in „Lettipark“ überrascht die Berliner Schriftstellerin, die bereits mit ihrem 1998 erschienenen Debüt „Sommerhaus, später“ für Aufsehen sorgte, von der ersten Erzählung an mit ihrer Gabe, das Wesentliche auf den Punkt zu bringen. Es gelingt ihr mit sagenhafter Ökonomie. Kein Satz, kein Wort ist zu viel, wenn sie ihre kleinen Geschichten erzählt, die so zielsicher wie beiläufig hingetupft das Wichtige aus dem Alltäglichen herausschälen. Rein oberflächlich betrachtet, haben diese ausgesuchten Momentaufnahmen aus diversen Lebensläufen nichts Spektakuläres. Doch für die stets sehr plastisch gezeichneten Protagonisten handelt es sich um tiefergehende Wendepunkte — und sei es nur im Denken und Fühlen.

Es geht in den insgesamt 17 Erzählungen, die oft zwischen einer unbestimmten Vergangenheit und Zukunft in einer unmittelbaren Gegenwart spielen, um Erinnerungen, Tiefpunkte und Höhenflüge, um individuelle Katastrophen und Unzulänglichkeiten, um Chancen und Möglichkeiten oder einfach nur um eine Erkenntnis. Die meisten dieser Begebenheiten erreichen trotz ihrer Knappheit eine unverhoffte Dichte und Intensität, so dass sie noch eine Weile nachhallen, und weil die Enden meist offen sind, darf der Leser sie weiterdenken.

Die erste Geschichte mit dem Titel „Kohlen“ führt auf berührende Weise von einer scheinbar banalen Szenerie zum schicksalhaften Drama. Ein kleiner Junge namens Vincent hilft den Nachbarn dabei, Kohle für den Winter in den Keller zu schippen. „Im letzten Winter war Vincents Mutter gestorben“, heißt es dann. Der Vater hatte sich von ihr getrennt und sie war darüber krank geworden. „Seine Mutter hatte uns gezeigt, dass man an der Liebe sterben kann. . . Es war eigenartig zu denken, dass das Vincents ganzes Leben bestimmen würde, und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.“

Eher verstörend ist das mit „Fetisch“ überschriebene Schlaglicht auf die Biografie einer Frau, die ihr „On-the-Road“-Dasein offensichtlich bedingungslos nach einem — inzwischen abwesenden — Mann ausrichtet. Und man kann sich seine Gedanken machen, wie es wohl zu dieser fatalen psychischen Abhängigkeit gekommen ist.

Auch den Figuren in „Papierflieger“ lässt Judith Hermann ihre Geheimnisse. Man begegnet der alleinerziehenden jungen Mutter Tess, die nach einer psychischen Krise wieder Arbeit sucht und ein Vorstellungsgespräch hat. Nick passt derweil auf die kranken Jungs auf. Vielleicht wäre er der Richtige für Tess und ihre Söhne. Doch „alles nochmal zerlegen, neu zusammensetzen“ — so einfach ist das Leben auch in dieser melancholischen Geschichte nicht.

Dann ist da etwa noch ein Paar am Scheidepunkt oder eine Tochter, die den Vater ein letztes Mal besucht, — keine dieser Storys ist betulich, jede von einer unverwechselbaren Stimmung und einfach schöner Sprache. Es sind Geschichten, die das Leben so oder so ähnlich zu schreiben vermag, und sie geben dem Zwischenmenschlichen die Gewichtung, die es verdient.

Judith Hermann: Lettipark. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 189 Seiten, 18,99 Euro.

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