Melancholische russische Seelenkämpfe

8.8.2011, 00:00 Uhr
Melancholische russische Seelenkämpfe

© Horst Linke

Ängstliche Blicke den ganzen Tag über gen Himmel und in die Wetterprognosen im Internet: Treffen Nürnberg die angekündigten schweren Gewitter? Als ich mich aufs Rad Richtung Luitpoldhain schwinge, tröpfelt es sachte. „Das kann ja heiter werden“, denke ich mir bei der Tour durch die Südstadt. Aber ich merke schnell, ich bin längst nicht der einzige mit dem Ziel, einen lauschigen Abend im Park zu verleben. Dieses Mal sind es annähernd wieder 50000, die sich zwischen Münchener Straße und Schultheißallee einfinden.

Aber, oh Wunder: Die Tropfen versiegen. Kurz nach Acht eröffnen die Nürnberger Symphoniker trockenen Hauptes unter Alexander Shelley mit dem schmissigen „Trepak“ aus Tschaikowskys „Nussknacker“ den musikalischen Teil des Massenpicknicks. Ich tauche mit Hingabe in Erik Schumanns wunderbar gefühlvolle Kantilenen in Tschaikowskys Violinkonzert.

Gerdas Fehltritte

Doch die werden beileibe nicht von allen Besuchern geschätzt. Als ich zwei Mitfünfzigerinnen neben mir, die sich lautstark darüber auslassen, was Gerda wieder alles angestellt hat, vorsichtig bedeute, dass mir die Musik wichtiger als Gerdas Fehltritte seien, herrschen sie mich an: „Wenn Sie zuhören wollen, gehen Sie doch in die Oper!“ Empört verlassen die Damen meine Nachbarschaft und ich gestehe mir zerknirscht und schuldbewusst ein, dass es wirklich mal wieder an der Zeit wäre, bei nächster Gelegenheit in die Oper zu gehen...

Der 29-jährige Geigenvirtuose Erik Schumann ist mittlerweile bei der großen, haarigen Solokadenz am Ende des ersten Satzes angekommen, die das Publikum wie bei einer Jam-Session mit Beifall quittiert. Swusch – eine flinke Feldmaus flüchtet über meine Füße springend ins Gebüsch. So etwas ist mir in der Meistersingerhalle noch nie passiert. Am Ende der hervorragend ausgestalteten Kadenz brandet wieder Beifall auf. Fein, es gibt noch Zeitgenossen, die das Zuhören nicht verlernt haben.

Pause. Eine langjährige Konzert- und Operngängerin zündet sich eine Zigarette an. Ihr aus Italien stammender Gatte lächelt sie an. Solocellist Christian Amann genehmigt sich ein erfrischendes Mineralwasser.

0:1 „für“ Nürnberg?

Swusch — eine zweite Maus rast, dieses Mal meine Füße umflitzend, ins nämliche Gebüsch. Aha, denke ich, ein Pärchen. Apropos Pärchen: Am Ende der Pause lässt es sich die frisch vermählte Kulturreferentin nicht nehmen, dem noch frischer angetrauten Paar Zoe und Alexander Shelley zu gratulieren und in die Flitterwochen gen Malediven zu verabschieden. Und dann spricht sie einen irritierenden Satz: „Der Club hat 0:1 gewonnen!“ Der zweite Teil ist spannend: Wird es gelingen, mit den schicksalsschweren, Leid-durchtränkten 50 Minuten dauernden, vier Sätzen von Rachmaninows zweiter Sinfonie die Herzen zu erobern? Dirigent Shelley schafft das in seiner Zweitkarriere als Konferencier im Handstreich, aber die Musik ist von bleierner Schwermut und mäandert ziellos von Seufzerchromatik in die nächste Verzweiflung.

Die Absatzbewegungen im Publikum werden stärker. Viele kriegen gar nicht mehr die wieder überwältigende Wunderkerzen-Szenerie zum melancholischen Intermezzo aus Massents „Thaïs“ mit. Ich schaue mir das Schauspiel von der Anhöhe aus an und bin ergriffen. So friedlich hätte es hier im September 35 abgehen sollen!

Dann klettert dieser sportive Chefdirigent auf den Turm neben Lautsprecher Fünf und dirigiert mit Leuchtstab den Weltrekord im Kanonsingen. „Bruder Jakob“ — — „Ding Dong“ — — „Schläfst Du noch?“ — „Hörst Du nicht die Glocken“ tönt es von allen Seiten. „Sie waren fantastisch!“, ruft Shelley der Masse zu und rast aufs Podium zurück, um die Zugabe zu leiten. Überraschungsbariton Wilfried van der Brande legt sich in Cole Porters balsamischen „Begin the Beguine“. Riesenbeifall. Danach „Pomp and Circumstances“ zum Feuerwerk. Schön war‘s — trotz Rachmaninow. Es tröpfelt wieder.

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