Neuer Roman von Autorin Harper Lee schockt USA

14.7.2015, 19:17 Uhr
Neuer Roman von Autorin Harper Lee schockt USA

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Atticus Finch ist so etwas wie das moralische Gewissen der USA. Der stets freundliche und weise Rechtsanwalt verteidigt in dem 1960 veröffentlichten Weltbestseller «Wer die Nachtigall stört» einen zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigten Afro-Amerikaner - und erteilt dabei sowohl seinen Kindern Jem und Scout als auch einem ganzen Land eine Lektion in Toleranz, Nächstenliebe und Menschenrechten. Für unzählige US-Amerikaner galt die Romanfigur jahrzehntelang als eine Art perfekter Mann und Vorbild.

Zu gerne hätten sie mehr von ihm gelesen, doch Autorin Harper Lee, die für «Wer die Nachtigall stört» den Pulitzerpreis bekam, verweigerte sich standhaft jeder weiteren Veröffentlichung - bis jetzt. Mit «Go Set a Watchman» («Gehe hin, stelle einen Wächter») ist nach mehr als 50 Jahren erstmals wieder ein Buch der 89 Jahre alten und gesundheitlich schwer angeschlagenen Schriftstellerin erschienen. Nach der englischen Originalfassung am Dienstag kommt die deutsche Fassung am Freitag in die Buchläden. Geschrieben hat Lee den Roman allerdings schon vor «Wer die Nachtigall stört» - es ist eine Art erster Entwurf für den Weltbestseller. Das Manuskript galt jahrzehntelang als verschollen und ist vor kurzem wiederentdeckt worden.

Flüssig und mitreißend

Schon vor der Veröffentlichung galt der Roman als mit Spannung erwartete literarische Sensation. Beim ersten Lesen zeigten sich viele Kritiker und Fans allerdings geschockt: «Gehe hin, stelle einen Wächter» ist etwa 20 Jahre nach «Wer die Nachtigall stört» angesiedelt. Scout ist eine junge Frau, die sich inzwischen Jean Louise nennt und in New York lebt. Ihr Bruder Jem ist tot. Vater Atticus Finch - und das dürfte für die meisten Fans wohl der größte Schock sein - ist zum Rassisten geworden, der ein Treffen des Ku-Klux-Klans besucht und sich abfällig über Afro-Amerikaner äußert.

Sprache, Aufbau und immer wieder auch Witz des Buches lassen keinen Zweifel daran, dass Lee die Autorin ist. Wie schon «Wer die Nachtigall stört» ist auch «Gehe hin, stelle einen Wächter» flüssig und mitreißend geschrieben und wirkt auch mehr als ein halbes Jahrhundert später kein bisschen vergilbt. Die völlig veränderte Konstellation der Hauptfiguren aber, sorge für «aufwühlende», «verstörende» und «desorientierende» Lektüre, schrieb die «New York Times».

Vom Manuskript zum Bestseller

Das Buch beginnt damit, dass Jean Louise mit dem Zug von New York nach Alabama reist, um Atticus und auch ihren Freund Henry Clinton zu besuchen. Aber die Begegnungen stimmen sie traurig - einerseits, weil es ihrem Vater gesundheitlich schlecht geht, und andererseits, weil sowohl ihr Vater als auch ihr Freund sich für eine Trennung von Schwarzen und Weißen aussprechen, die Jean Louise entschieden ablehnt.

«Gehe hin, stelle einen Wächter» wirft viele Fragen auf. Wie konnte aus diesem Manuskript der Weltbestseller «Wer die Nachtigall stört» werden, der eine so ganz andere Botschaft in sich trägt? Das neue Buch werde wohl Image und Vermächtnis des heißgeliebten Klassikers «Wer die Nachtigall stört» und auch von Autorin Lee verändern, mutmaßte die «New York Times». Andererseits müsse es aber erstmal auch noch genauer unter die Lupe genommen werden. «Ohne Zweifel wird es in den kommenden Jahren unzählige Schulaufsätze und wissenschaftliche Essays darüber geben.»

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