Packender "Wozzeck" in Nürnberg

22.2.2017, 18:30 Uhr
Packender

© Foto: Ludwig Olah

So viel schauspielerische Intensität war selten im Opernhaus. Georg Schmiedleitner entpuppte sich für das epochemachende Musikdrama als genau der Richtige. Er übersetzt Büchners Szenen in die unmittelbare Gegenwart, belässt ihnen dennoch ihren fragmentarischen Charakter und verstärkt zudem die Brisanz des Stoffes. Die Suche nach einer kleinen Dosis Lebensglück bestimmt das Geschehen.

Eigenheim-Besitzer

Wozzeck ist hier kein soldatischer Underdog, sondern ein durchaus arrivierter Mittelständler und Eigenheimbesitzer, der aber Mühe hat, die Ansprüche dieses Lebensstils zu finanzieren. Und so hat er drei Jobs und kommt doch nicht richtig über die Runden. Seine Lebensgefährtin Marie muss dazu verdienen und geht deshalb anschaffen.

Das korrespondiert zur ersten Szene: Ein Stück weit prostituiert sich auch Wozzeck. Nein, er rasiert keinen Hauptmann mehr, sondern seine Dienstleistung besteht aus Flogging, also der sexuell stimulierenden Züchtigung. Und so reagiert er seine innere Aggression am Hintern eines Spießers ab, der nur noch Hauptmann heißt, aber keiner mehr ist. Hans Kittelmann konturiert diesen Aktentaschen-Biedermann brillant und mit dämonischer Mobbing-Perfidie. Zudem trifft er Alban Bergs besondere rhetorische Idiomatik, diese Zwischenform aus Sprechen und Gesang, sehr genau.

Das lässt sich von Katrin Adel leider nicht sagen. Die gebürtige Nürnbergerin, die seit dieser Spielzeit zum Ensemble gehört, trägt in die Partie der Marie einen zu starken Opernton ein. Man wünschte, sie hätte ein wenig mehr hingehört wie etwa eine Hildegard Behrens die zugegeben schwere Partie vokal anlegte. Wesensmäßig ist Adel kein verhärmtes Hascherl, sondern eine damenhafte Erscheinung, die ihre Freundinnen, darunter die arrivierte Gastsopranistin Irmgard Vilsmaier als Margret, schon mal zur Sektparty lädt. Alfred Mayerhofer hat nicht nur diese Feierwütigen in aktuellen Chic eingekleidet.

Mahnungen an den Wänden

Wie überhaupt die ganze Handlung in ein vermeintliches Wohlstandsbürger-Milieu eingebettet wird. Bühnenbildner Stefan Brandtmayr hat mobile Boxen bauen lassen, die sich vertikal wie horizontal kombinieren lassen. Wozzeck kann seine heimischen Wände mit Amazon- und Zalando-Mahnungen tapezieren. Er ist gezwungen, jedem Groschen nachzujagen, und sei es, sich als Probant für die Menschenversuche des am eigenen wissenschaftlichen Ehrgeiz berauschten Doktors (sehr präsent: Jens Waldig) zur Verfügung zu stellen.

Jochen Kupfer wäre sicher als proletarischer Hungerleider eine Fehlbesetzung. Aber in diese Konzeption von Georg Schmiedleitner passt seine beherrschte Aura sehr gut. Man erlebt mit, wie dieser grundgute Franz Wozzeck allmählich in die Verzweiflung getrieben wird, wie sich bei ihm die fixe Idee vom Auslöschen der Probleme durch das Auslöschen jenes Menschen, der ihm am nächsten steht, einnistet und Besitz ergreift. Wahrscheinlich ahnt er längst die Affäre seiner Marie mit dem Typen im Glitzeranzug (Tillmann Unger). Ein manisch Depressiver manövriert sich in eine ausweglose Einsamkeit, aus der ihn auch Smartphones nicht befreien.

Mord mit dem Teppichschneider

Selbst in kleinen Details ist diese Inszenierung groß: Der Sohn von Marie und Franz ahmt intuitiv die Verhaltensmuster seiner Eltern nach. Er traktiert seinen Teddy ähnlich wie es Wozzeck mit seinem Gürtel an Hauptmann tat. Das Mordmesser wird schnell greifbar, weil Wozzeck Teppichboden verlegt. Am Ende sitzen Marie und Franz im Tod vereint auf dem bürgerlichen Sofa und halten Händchen. Noch so eine starke Metapher.

Fast schon zynisch schiebt sich immer wieder der übergroße Schriftzug "Glück" in Vorder- oder Hintergrund. Die Wirtshausszene mit der potenten Bühnenmusik atmet gallige Heiterkeit. Demütigung und Gewalt sind die beherrschenden Triebfedern im gesellschaftlichen Mechanismus. So wie Wozzeck keinen Blick für seinen Sohn hat, schaut er auch im Gespräch mit seinem Kumpel Andres (Ilker Arcayürek) an ihm vorbei.

Sehr genau in die komplexe Partitur geschaut hat auch Gábor Káli. Der Dirigent und die Staatsphilharmonie haben sich hervorragend in die neusachliche Klangrede eingefühlt: Die formale Strenge von Bergs Musik ist gar nicht zu spüren, sondern alles wirkt emotional sehr organisch hergeleitet.

Dissonante Schönheit

Es passiert in den Noten soviel gleichzeitig und dennoch bleibt das Orchester transparent. Ja, es stellt sich so etwas wie eine dissonante Schönheit ein. Keineswegs geglättet, sondern um die Bedeutung jedes Akzents wissend. Káli betont das Aphoristische, das dem Stück innewohnt. Sowohl der von Tarmo Vaask einstudierte Chor als auch die spielfreudige Sängerauswahl aus Matthias Stubenvolls Musikschul-Jugendchor samt Statisterie komplettieren das stattliche Ensemble.

Dem gelingt ein eindrucksvolles Plädoyer für eines der stärksten Musikdramen überhaupt. Dass sich auch über 90 Jahre nach seiner Uraufführung noch Leute über die "unanhörbare" Modernität von Sujet und Komposition echauffieren und das Theater vorzeitig verlassen, beweist, wie nötig dieses Werk in den Spielplan gehört. Belcanto ist eben nur eine Facette im Repertoire. Mögen die wenigen Aufführungen vor allem viele junge Leute erreichen: Denn hier werden in hundert Minuten so viele Lebensfragen verdichtet und in Szene gesetzt wie in keinem Chatroom sonst.

Weitere Aufführungen: 21. Februar, 2., 6. und 29. März, 2. April; Tickethotline: 0 18 05 / 23 16 00.

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