"Tatort" aus Luzern: Laute Rufe nach Gerechtigkeit

30.12.2018, 21:45 Uhr

© ARD Degeto/ORF/Daniel Winkler

Alles nur Zufall? Seitdem das Schweizerische Fernsehen verkündete, die Ermittler Flückiger und Ritschard wegen dauerhaft niedriger Quoten und durchwachsener Kritiken Ende kommenden Jahres in Rente zu schicken und im Anschluss daran ein unverbrauchtes Team aus Zürich auf Streife zu schicken, scheinen die Schweizer offenbar demonstrieren zu wollen, dass sie sehr wohl in der Lage sind, interessante "Tatort"-Beiträge zu liefern.

Den Anfang machte im August Dani Levys One-Take-Shot "Die Musik stirbt zuletzt". Das sehenswerte TV-Spiel kam ohne einen einzigen Schnitt aus und wies damit Ähnlichkeiten zu Sebastian Schippers "Victoria" auf. Doch anders als in der hochgelobten Kinoproduktion wurde die Handlung in Levys Film nicht aus der Sicht einer Hauptfigur erzählt, sondern perspektivisch. So wanderte die Kamera von einer Person zur nächsten, von einem Handlungspunkt zum anderen. Daher erschien "Die Musik stirbt zuletzt" noch eine Nuance abgefahrener.

Krimi wie ein Kammerspiel

Etwas weniger kunstvoll, aber keinen Deut schlechter präsentiert sich nun "Friss oder stirb", der neue Schweizer "Tatort". Andreas Senns Film, der im Vergleich zum Vorläufer weitaus mehr Krimi typische Merkmale besitzt, erinnert an ein Kammerspiel, da er mit wenigen Darstellern auskommt und fast die kompletten anderthalb Stunden an nur einem einzigen Schauplatz spielt. "Friss oder stirb" kündet vom ungleichen Kampf zwischen Superreichen und auf der Strecke Gebliebenen. Hier die millionenschweren Machtprotze und da die kleinen Arbeitnehmer. Diese beiden Welten prallen in dem Krimi frontal aufeinander.

Den Auftakt bildet der Mord an einer Wirtschaftsprofessorin der Uni Luzern. Auf die Frau wurde in ihrer Wohnung mehrfach eingestochen. Demzufolge bietet sich Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) ein entsprechend blutiges Bild, als sie am frühen Morgen am Ort des Geschehens eintreffen.

Dealmaker mit blutigen Händen?

Während erste Recherchen ergeben, dass die Getötete kürzlich eine sehr hohe Spende der Firma "Swisscoal" gegen den Willen der Uni-Leitung abgelehnt hat, entdeckt die Spurensicherung vor dem Anwesen der Toten frische Lackspuren an einem angefahrenen Auto. Die Auswertung der Proben führen sie zum Fahrzeug von Anton Seematter (Roland Koch), dem CEO von "Swisscoal". Nachdem die Kommissare zudem herausfinden, dass dessen Tochter Leonie an der Uni der Ermordeten studiert, beschließen sie, dem Manager einen Besuch abzustatten.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Arbeitslose Mike Liebknecht (Mišel Matičević) bereits vor der noblen Villa von Anton Seematter angekommen. Ohne größere Probleme kann Liebknecht ins Innere des luxuriösen Bungalows mit Seeblick vordringen. Dort überwältigt er die Seematters. Er fordert Gerechtigkeit. Und Geld. Schließlich sei der Manager, der sogenannte Dealmaker, dafür verantwortlich, dass er nach der kürzlich erfolgten Fusion zweier Firmen seinen Job verloren habe.

Spätestens in dem Moment, wenn die Kommissare an der Tür klingeln, und ebenfalls als Geisel genommen werden, finden die zwei bisher getrennt voneinander abgelaufenen Handlungsstränge zusammen. Es beginnt ein kammerspielartiger Thriller, in dem sich ein wegrationalisierter Arbeiter mit einem Vertreter der Machtelite bis aufs Blut duelliert. Es geht um jene, die chancenlos sind und bleiben, und um die, die schon mit Privilegien ausgestattet zur Welt kommen. Sie stehen sich in "Friss oder stirb" Auge in Auge gegenüber.

Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen

Zum Glück verzichtet Andreas Senn in seinem "Klassenkampf-Tatort" auf das Abfeuern von im Zusammenhang mit diesem Thema offenkundig auf der Hand liegenden Parolen. So entgeht der Regisseur der Gefahr, billig und auf eine gewisse Weise gar populistisch zu erscheinen. Im Grunde zeichnet Senn ein Bild, das nur zu Beginn deutlich in Gut und Böse unterteilt ist. Mit zunehmender Spieldauer dreht sich die Geschichte. Latenter Humor und Sarkasmus ergießen sich über die Szenerie und die anfangs klar gezogenen Linien verschwimmen.

Daher gibt es am Ende dieses durchaus realistischen, fein inszenierten Zweikampfs, der sich zu Genre unüblicher Musik in einer prächtigen Villa am Rande Luzerns abspielt, und in dem sich Koch und Matičević ein starkes schauspielerisches Duell mit Worten, Waffen und präzisen Gesten liefern, eigentlich nur Verlierer. Echter Gewinner ist dagegen der Zuschauer. Denn er ist Zeuge eines weiteren gelungenen Schweizer "Tatorts" geworden.

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