Thea Dorn kommt nach Schwabach

23.10.2016, 14:22 Uhr

Für Johanna Mawet ist der Tod eine Zumutung, der sie mit ihren Mitteln begegnen muss. Die Humangenetikerin will ihren Forschungsaufenthalt an einer amerikanischen Ostküstenuniversität nutzen, um in ihrem Lebensprojekt einen großen Schritt voranzukommen: „Sämtlichen Zellen im menschlichen Organismus Regenerationskräfte zu verleihen, die weit über das natürliche Maß hinausgingen, damit zugleich die Zellalterung abzuschaffen und also den Weg zur Unsterblichkeit zu ebnen.“ In den USA, wo sie viel freier forschen kann als in ihrer deutschen Heimat, will sie von Mäusezellen auf menschliche Zellen übergehen.

Noch bevor sie soweit ist, trifft sie im Supermarkt einen Mann, dessen Verhalten und Aussehen sie irritieren. Warum gerät er außer sich, nur weil sie ihn bittet, ihre Einkäufe statt in Papier- in Plastiktüten zu verpacken? Warum starrt er sie so an? Und wie passen seine schwarze Lockenmähne und die glatte Haut zu den weiß behaarten Armen? Auffällig ist auch, dass er Englisch mit deutschem Akzent und ein antiquiertes Deutsch mit ihr spricht.

Ritters Geheimnis

Fortan weicht ihr dieser Sonderling nicht mehr von der Seite. Allmählich weiht er sie in sein Geheimnis ein: Er sei Johann Wilhelm Ritter, geboren 1776 in Schlesien, offiziell gestorben 1810 in München, tatsächlich aber 240 Jahre alt. Ihr Unglaube weicht erst, als sie mit eigenen Augen sieht, wie sich sein Körper sogar nach Verstümmelungen in kürzester Zeit regeneriert. Und als sie nachliest, wer der historisch verbriefte Ritter war, steht für sie fest, dass ihr seine Zellen den Schlüssel zur Unsterblichkeit liefern werden.

Thea Dorn knüpft mit „Die Unglückseligen“ an ihre früheren Gesellschaftsromane und insbesondere an „Die deutsche Seele“, ihre Kulturgeschichte des Deutschen, an. Ihr Drama um den Naturforscher und Philosophen Johann Wilhelm Ritter, der mit Goethe, Herder, Schlegel, Humboldt und den Brentanos verkehrte, als Physiker die UV-Strahlung entdeckte und den Akku erfand, ist ein komplexes, faustisches Spektakel. Der Frühromantiker Ritter steht bei Dorn auch für den Glauben, dass die Wissenschaft der göttlichen Schöpfung dienen soll, nicht umgekehrt.

Sein deutsches Gemüt sowie Schmerz und Lebensüberdruss des alten Mannes, der sich dann doch noch einmal in eine junge, schöne, kluge Frau verliebt, auch weil sie ihn an seine durch Kriege und Flucht verlorene Heimat erinnert, kontrastieren mit der spröden Art der fortschrittsgläubigen, effizienzgesteuerten Johanna, die mehr an ihren glänzenden Geräten mit dem weißen Apfel-Logo hängt – Ritter hält sie und viele ihrer Zeitgenossen für Mitglieder eines „Apfelbunds“ – als an einem Menschen.

Der Blick des Zeitreisenden auf die letzten Jahrhunderte und die amerikanische und deutsche Gegenwart, die Auseinandersetzungen von Johann und Johanna über Sinn, Zweck und Grenzen von Glaube, Spiritualität, Wissenschaft und Leben und die Veränderung ihrer Beziehung, in der sich schließlich Rationalität, Lebenslust und Tatkraft umkehren, werden immer wieder vom Teufel kommentiert. Wie Mephisto in Goethes Faust wettert er gegen Gott und hat zeitweise fast Mitleid mit den Menschen: „Dein Reich wird fallen, grausam launenhafter Herr! Ich spür’s: Nicht viel fehlt mehr, und stürzen wird der letzte Pfeiler, und mit ihm alles, was DU warst und bist, von Ewigkeit zu Endlichkeit. Amen. Doch stille jetzt! Das große Spiel, das mir das Herz vor Freude hüpfen lässt, fängt an – und unsre beiden Freunde seh ich mittenmang!“

Die Sprache ist das größte Abenteuer bei der Lektüre dieses auch an Action und emotionalen Wechselbädern reichen Dramas. Wie bei der „Deutschen Seele“ spielt Dorn auf breitestmöglicher literarischer Klaviatur. Der Textfluss wird immer wieder durchbrochen von Gedichten, Liedern, Briefen, Gebeten, einem Dramolett über einen utopischen „Weltkongress der Immortalisten“ und ein fett gedrucktes Märchen über den Ausflug einer kleinen Fledermaus; vereinzelt flicht Dorn auch Illustrationen ein. Hinzu kommen Passagen in Schwäbisch, Altfränkisch und anderen Dialekten.

Rasanter Sinneswandel

Eine Menge kreativer Einfälle also, was bis zum Schluss für Überraschungen sorgt. Dennoch finden sich insbesondere im zweiten Teil lange Selbstgespräche, die ermüden, wenn sie in Ritters altertümlicher Sprache und in Johannas zunehmend ins Okkulte abdriftendem Ton gehalten sind. Denn als sie mit der Decodierung des Genoms nicht weiterkommt, greift sie zu anderen Mitteln. Erst macht sie sich selbst zum Forschungsobjekt, später mutiert sie von der fast fanatischen Forscherin zur Frau, die sich von der Wissenschaft abwendet und ganz der Liebe hingibt. Dieser rasante Sinnes- und Lebenswandel überfordert den Leser leicht, zumal Dorn immer wieder neue Randthemen und spielerische Elemente einführt. Etwas weniger Überfrachtung hätte diesem erzählerischen Großwerk gutgetan.

Thea Dorn: Die Unglückseligen. Roman. Knaus Verlag, München. 552 Seiten, 24,99 Euro.

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