Missbrauchsopfern einen positiven Weg aufzeigen

24.8.2012, 14:25 Uhr
Doris Distler und Petra Burth helfen Missbrauchsopfern in Neumarkt und Feucht.

Doris Distler und Petra Burth helfen Missbrauchsopfern in Neumarkt und Feucht.

Sie wollen damit Opfern einen Weg aus der Dunkelheit zeigen. Frau Distler, Frau Burth, seit einigen Jahren leiten Sie Selbsthilfegruppen in Feucht und in Neumarkt für Frauen, die als Kind oder junges Mädchen missbraucht, manche sogar vergewaltigt wurden. Jetzt haben Sie sogar ein Buch geschrieben. Warum?

Distler: Vergewaltigung und Missbrauch sind noch immer ein Tabu. Dabei ist das Thema weit verbreitet. Der Verein Wildwasser geht davon aus, dass 30 Prozent aller Frauen schon einmal Opfer von Vergewaltigung und Missbrauch geworden sind. Meine persönliche Schätzung liegt bei 40 Prozent. Die Opfer gelten oftmals als dreckig. Viele geben ihnen eine Mitschuld an den Taten.

Burth: Aber wie soll ein Kind Schuld haben? Eine Frau aus unserer Gruppe wurde von ihrem eigenen Vater zehn Jahre lang vergewaltigt. Das erste Mal als sie zwei Jahre alt war. In der Gruppe und auch beim Lesen des Buches sehen Betroffene, dass sie nicht allein sind, dass es anderen auch so ergangen ist. Und sie sehen: Petra und Doris haben es aus dem Tief geschafft, dann schaffe ich es auch! Das ist eine unglaubliche Motivation für uns.

Wie hat Ihnen die Gruppe geholfen?

Burth: Ich habe selbst Missbrauch in der Kindheit erlebt und mich erst sehr spät damit auseinandergesetzt. Vorher habe ich verdrängt, mich geritzt, getrunken und habe versucht, mich umzubringen. Erst mit 45 Jahren begann ich eine Therapie. Ich musste diesen Weg ganz alleine gehen. In der Klinik habe ich gemerkt, wie sehr es mir hilft, mich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Deshalb habe ich vor fünf Jahren die Selbsthilfegruppe in Feucht gegründet. Hier können wir sein, wie wir sind. Müssen nicht in eine der vielen Rollen schlüpfen, die wir jahrelang gespielt haben. Ich muss mich nicht erklären bei den anderen Mitgliedern. Und wir sind ehrlich zueinander, haben nicht nur Mitleid für die andere übrig. Wir sind eine Frauenfamilie, eine Seelenfamilie.

Frau Distler, wie sind Sie mit dem Erlebten umgegangen?

Distler: Ich habe es lange verdrängt. Mit 15 Jahren wurde ich von einem Jungen aus meiner Clique vergewaltigt. Meinen Eltern erzählte ich nichts, sie hätten mir nicht geglaubt. Ich verdrängte so sehr, dass ich mich nicht mehr an die Vergewaltigung erinnern konnte. Ich bekam Depressionen und wusste nicht, wieso. Zweimal versuchte ich mich umzubringen. Erst zwölf Jahre später kam das Erlebte hoch. Seitdem beschäftige ich mich damit. Ich musste mir viel selbst erarbeiten. Heute helfe ich anderen Frauen nicht nur in der Selbsthilfegruppe in Neumarkt, sondern auch in meiner Praxis als Energieberaterin. Wenn man so etwas erlebt hat, fühlt man anders. Das Selbstwertgefühl ist verschwunden. Ich hatte Todesangst. Und noch heute habe ich ein Problem damit, meine Weiblichkeit auszuleben.

Wie laufen die Treffen in der Gruppe ab?

Burth: Wir treffen uns einmal in der Woche für etwa zwei Stunden. Am Anfang wird auch viel gelacht und geratscht. Dann geht’s los, und wir erzählen uns, wie es uns heute geht. Wir reden viel über Flashbacks, die Opfer bekommen, wenn das Aussehen oder der Geruch eines Mannes sie an den Täter erinnern. Fast alle Frauen in der Gruppe sind außerdem „muttergestört“. Sie sind sauer auf den Täter, aber auch auf die Mutter, die meist vom Missbrauch wusste. Sie fühlen sich von ihr verraten. Darüber reden wir viel. Jede Frau wird außerhalb der Gruppe zusätzlich therapeutisch betreut.

Was ist die Botschaft Ihres Buches?

Distler: Bereits vor Jahren habe ich mit diesem Buch angefangen. Dann lag das ewig lang herum. Innerhalb eines Jahres haben Petra und ich es neu aufbereitet. Das Buch „Endlich leben“ Mut zum Ich“ haben wir für Frauen geschrieben, die in ihrer Kindheit oder Jugend auch Missbrauch erlebt haben. Wir wollen einen Überblick geben über Ansätze und Hilfsangebote. Wir wollen den Frauen nichts „raufpfropfen“, sondern sie sollen selbst entscheiden, was ihnen gut tut. Auch aus meinem Berufsleben als Energieberaterin sind viel Übungen im Buch enthalten, zum Beispiel zur Eigenliebe. Wir wollen Abkürzungen aufzeigen, damit Frauen sich nicht alleine jahrelang mit ihrem Missbrauch quälen müssen. Das Buch soll eine neue, positive Richtung bieten. Aber auch Testleser, die nicht missbraucht wurden, haben gesagt, dass ihnen das Buch geholfen hat. Grundsätzlich richtet es sich an jeden Menschen, der sich selbst finden will.

Burth: Für viele Frauen in der Gruppe ist das Buch ein steter Wegbegleiter, den sie immer in ihrer Handtasche dabei haben.

Nun ist das Buch fertig, was steht als nächstes bei Ihnen an?

Burth: Ab Herbst machen wir einen Bühnendialog. Wir gehen in Kindergärten oder Schulen und führen dort ein Theaterstück auf. Damit wollen wir die Erzieher für das Thema sensibilisieren. Auf der Bühne unterhalten sich zwei Frauen aus der Gruppe über ihr früheres Leid. Darüber, wie allein sie gewesen sind, was sie alles mit sich ausmachen mussten.

Distler: Die Eltern und Erzieher sollen spüren, wie es den Kindern mit so einer Erfahrung geht und nachvollziehen, warum so ein Kind manchmal nicht normal reagiert. Denn je früher man den Kindern hilft, desto kürzer ist der Leidensweg.

Gibt es noch andere Projekte, die Sie anstreben?

Distler: Wir planen, ein Auffangzimmer einzurichten. Wenn sich eine Frau mit Gewalterfahrung dazu entschließt, den Täter anzuzeigen, geschieht das meist nachts. Wo soll sie danach hin? Womöglich noch mit Kindern? In Nürnberg, Regensburg und Schwabach gibt es Frauenhäuser. Dazwischen fehlen solche Einrichtungen. Wir verhandeln bereits mit Gemeinden, Verbänden und der Polizei, um Zimmer, beispielsweise in Pensionen, für den Notfall bereitstellen zu können.

Wie geht es Ihnen heute?

Distler: Ich genieße mein Leben sehr und lebe jeden Tag bewusst. Mein Beruf erfüllt mich sehr und ich habe einen Partner, der Bewunderung für meine Arbeit und Verständnis für mich hat.

Burth: Auch ich führe zwischenzeitlich ein tolles, zufriedenes Leben. Meinen Beruf als Altenpflegerin habe ich aufgegeben, um für meine Familie und die Selbsthilfegruppe da zu sein. Mein Enkel hat mir meine Kindheit, ja, mein Leben wiedergegeben. Jede kann es schaffen, auch wenn es schwer ist.

Am Montag, 27. August, um 19.30 Uhr lesen die zwei Autorinnen aus ihrem Buch im Sparkassensaal in Lauf. Das Buch stellen sie außerdem am 4. September um 11 Uhr in einer Pressekonferenz im Landratsamt Neumarkt vor. Infos auch unter www.shg-lebenslinie.de

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