„Amokläufe provozieren weitere Amokläufe“

26.7.2016, 19:52 Uhr
„Amokläufe provozieren weitere Amokläufe“

Ein Amoklauf und zwei Anschläge, mit islamistischem Hintergrund. Was ist los?

Straßner: Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass die Motive für Amokläufer und Terroristen mittlerweile teilweise deckungsgleich sind. Es gibt eine individuelle Komponente, einen psychischen Defekt, der beide zu ihrer Tat befähigt. Dazu gehört die psychische Instabilität, die systemische Ausgrenzung, die sie sozial isoliert, und ähnliches. Die Radikalisierung, auf die alle anspielen, ist nur ein Zubrot. Sie kommt eher zufällig dazu. In Ansbach könnte sie ein Brandbeschleuniger gewesen sein. Das sind keine Islamisten, die sich lange mit dem Thema beschäftigt haben. Die sind in den Fundamentalismus geraten; sie sehen sich als Islamisten, befeuern aber eigentlich zutiefst persönliche Motive.

Trifft das auf den Würzburger Attentäter auch zu?

Straßner: Allerdings. Wir müssen auch in der Berichterstattung aufpassen. Wenn jemand „Allahu Akhbar“ schreit oder mal Kontakt zu einem Fundamentalisten gehabt hat, kommt er sofort in die Rubrik Terrorismus. Das passt nicht. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass sich die Motive für Amokläufer, für terroristische Einzeltäter und für Mitglieder einer extremistischen Organisation gleichen.

In München hat der Amoklauf zu Panik in der Stadt geführt. Ist die Angst der Menschen berechtigt?

Straßner: Wir sind allmählich im Zustand einer kollektiven Psychose. Was mich nicht wundert. Ich habe einen Liveticker auf dem Handy, was ich bereue, weil ich jeden Tag zahllose Breaking News bekomme, die alles andere als das sind. In den 1980er Jahren haben uns schlechte Nachrichten in der Tagesschau erreicht. Heute breiten sie sich in Echtzeit aus über die sozialen Medien. Das führt zur kollektiven Psychose, die uns im Augenblick das Leben mehr erschwert als der Terrorismus selbst. Terror ist zu einem Branding geworden. Der Begriff sorgt für höchste Verbreitung. Die Medien kommen dann zwar ihrer Informationsfunktion nach. Faktisch betreiben sie aber das Geschäft der Terroristen.

Wie meinen Sie das?

Straßner: Allein wenn ich sehe, wie sich im Fernsehen zahlreiche Experten äußern. Die stochern im Nebel, haben zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung und behaupten Dinge, die überaus gefährlich sind. Wenn die einen islamistischen Hintergrund nennen und, wie geschehen, vermuten, dass die Täter schon als Terroristen gekommen seien, dann zündeln sie.

Wir hatten drei Anschläge in einer Woche. Da ist es doch kein Wunder, dass die Menschen nervös werden.

Straßner: Das geht mir genauso. Aber wir haben bei Amok diese Häufung oft beobachtet. Das nennt sich Werther-Effekt. Amokläufe haben immer weitere Amokläufe provoziert.

Ist das nur ein mediales Problem oder nicht auch ein gesellschaftliches?

Straßner: Wir schaffen es als Gesellschaft nicht mehr, diese Menschen zu integrieren. Das hat weniger mit dem Islamischen Staat zu tun als mit uns selbst. Die Bindekraft unserer Gesellschaft lässt nach. Die versteht sich zwar als sehr offen, ist aber zugleich hochgradig exklusiv. Wer daran nicht teilnehmen kann, wird schnell ausgegrenzt. Wenn er sich dann radikalisiert, wird er Terrorist genannt, obwohl er das so nicht ist.

Wollen Sie tatsächlich die Attentäter nicht als Terroristen einstufen?

Straßner: Wir können sie gern als Terroristen bezeichnen; ich glaube nur, dass dieser Begriff viel zu pauschal verwendet wird. Er ist eine sehr bequeme Schublade. Ein IS-Kämpfer ist ein überzeugter Muslim, er lebt den Glauben, verbreitet über einen langen Zeitraum hinweg diese Ideologie. Die Turboradikalisierung, die wir im Moment beobachten, ist dagegen nur die Kirsche auf der Sahne. Der Kuchen unten, der ist etwas ganz anderes. Diese Menschen hatten vorher schon andere, riesige Probleme.

Der Würzburger Jugendliche war integriert, lebte in einer Familie, hatte eine Lehrstelle in Aussicht.

Straßner: Sowohl beim Phänomen Amok als auch beim Phänomen Terrorismus passen bestimmte Sichtweisen nicht mehr. Es ist sehr viel komplexer. Gerade bei den spontan Radikalisierten wird deutlich, wie enorm die Bandbreite ist. Die reicht vom Einzelgänger bis zum vermeintlich Integrierten, vom sozial Ausgegrenzten bis zum Akademiker. Was alle gemeinsam haben, ist die psychische Disposition.

Fast alle Amokläufer haben so genannte Egoshooter gespielt.

Straßner: Wohl, weil es ihnen ein gewisses Machtgefühl verleiht. Gerade Amokläufer waren vorher in ihrem sozialen Leben isoliert. Die sehnen sich nach Macht. Aber einen ursächlichen Zusammenhang hielte ich für falsch. Millionen spielen das, ohne dass sie auffällig wären. Bei den Amokläufern ist die psychische Disposition viel ausgeprägter. Es ist eben nicht nur das Umfeld ausschlaggebend, sondern der psychische Defekt.

Gibt es den auch bei Terroristen?

Straßner: Früher waren Terroristen oft Akademiker, ausgeprägt rational handelnde Menschen, die eine klare Zweck-Mittel-Relation gehabt haben. Bei den aktuellen Fällen in München, vor allem aber in Würzburg und Ansbach verschwimmt die Grenze zwischen Amok und Terrorismus.

Warum radikalisieren sich Jugendliche?

Straßner: In den 1980er und 1990er Jahren haben die Jugendlichen nach Freiheit gesucht, nach Selbstverwirklichung. Heute sehnen sie sich laut Studien nach Bindungen, nach politischer Heimat, nach eindeutigen gesellschaftlichen Kategorien. Das macht sie anfällig für extremistische Ideologien, weil die die Welt in richtig und falsch teilen. Dabei ist es vollkommen egal, ob Rechts- oder Linksextremisten oder religiöse Fundamentalisten auf diese Jugendlichen zugreifen. Entscheidend ist nur, wer zuerst kommt.

Was können wir dagegen tun?

Straßner: Das wäre eine Aufgabe für Jahrzehnte. Da bin ich skeptisch. Weil die Gesellschaft sich zu schnell abwendet, zu schnell ermüdet, und solche Phänomene schnell wieder verdrängt. Es gibt sie aber, die Blindstellen in unseren Gesellschaften, die Jugendlichen die Orientierung nehmen. Wir wollen sie schnell ins Erwerbsleben entlassen, sie sollen mit 17 Abitur machen und studieren. Das kann Jugendliche ganz schön durcheinander bringen. Wir müssen zuhören, damit wir erkennen können, dass jemand abdriftet und nicht wegschauen, weil es uns nervt und Zeit kostet.

Müssen wir nicht auch bei der Betreuung der Flüchtlingen ansetzen?

Straßner: Integration hat bei uns bisher nur marginal funktioniert. Angesichts der Flüchtlingskrise müssen wir ernsthaft fragen, ob das besser geht, wenn wir eine Million Menschen ins Land lassen. Das war zwar lobenswert, aber in seinen Konsequenzen naiv. Selbstverständlich muss unsere Gesellschaft die Flüchtlinge integrieren. Wer isoliert ist, ist ein gefundenes Fressen für Fundamentalisten. Das setzt aber auch die Bereitschaft dazu bei den Flüchtlingen voraus.

Was muss von ihnen kommen?

Straßner: Sie müssen sich ebenfalls um Integration bemühen. Wer beispielsweise auf eine deutsche Schule geht, muss der Lehrerin die Hand geben, wenn sie das möchte. Ganz egal, ob er wegen seiner religiösen Prägung Frauen nicht für reif hält. Wir müssen diese Diskussion vor allem ehrlich führen. Das tun wir nicht. Es gibt nur noch Pro und Kontra. Es gibt entweder den guten Flüchtling oder den bösen Terroristen. Dazwischen ist kein Raum mehr. Und das macht mich skeptisch, ob wir das in den Griff bekommen.

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