Das rätselhafte Unglück der Generation Smartphone

1.12.2014, 22:10 Uhr
Das rätselhafte Unglück der Generation Smartphone

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Die Geschichte ist erst einmal zum Lachen. So in der Richtung: Schau mal, auf was für irre Ideen die in China wieder kommen. Also auf in die Fußgängerzone von Chongqing, einer für die Landesverhältnisse eher kleineren Stadt mit rund fünf Millionen Einwohnern im Zentrum. Dort gibt es jetzt zweigeteilte Fußwege. Die eine Seite ist reserviert für Menschen, die während des Laufens auf ihr Smartphone schauen wollen. So sollen Unfälle mit „normalen“ Passanten vermieden werden.

Alexander Markowetz findet das nicht besonders lustig. Wobei vorausgeschickt werden muss, dass der 38-jährige Informatiker und Junior-Professor der Universität Bonn schon von Berufs wegen kein Technikverweigerer oder Kulturpessimist ist. Auch, wenn sich das erst mal anders anhört.

„Blöde Kiste“

„Das Smartphone müsste mir eigentlich helfen, mich selber und mein Verhalten zu beschränken“, sagt er. Schließlich „kostet so ein Teil ein paar Hundert Euro. Aber wenn es das nicht kann, ist es doch eigentlich nur eine ziemlich blöde Kiste.“ So eine Aussage wird Apple, Samsung, HTC, LG oder Nokia nicht gefallen. Und schon gar nicht Google oder Facebook, deren Geschäftsgrundlage die permanente Aufmerksamkeit der Nutzer ist. Andererseits hat Markowetz ganz gute Argumente für seine Vorstellung von Smartphones, die sich ein wenig mehr um das geistige Wohlbefinden ihrer Besitzer kümmern.

Anfang des Jahres hat sich Markowetz mal wieder Gedanken über sein eigenes Handy-Verhalten und das seiner Kollegen gemacht. Die Geräte sind überall, ständig wird daran rumgefummelt. Viele machen sich darüber offensichtlich auch keine Gedanken. Auch nicht, ob sie die Interaktion zufrieden macht. Aber warum eigentlich?, fragte sich Markowetz.

Er und der Psychologe Christian Montag wollten Antworten jenseits bisheriger Studien, die sich meist auf die Selbsteinschätzung von Nutzern stützen. Der Informatiker entwickelte ein kleines Programm, eine App namens „Menthal“. Sie erfasst, wie oft das Smartphone für wie lange und zu welchem Zweck aktiviert wird. Nach einem Fernsehbericht fanden über 200 000 Menschen das Projekt nötig oder witzig. „Wir wurden überrannt“, sagt Markowetz im Rückblick und wünscht sich für solche Fälle einen wissenschaftlichen Notfallfonds. Er hatte nur ein paar Rechner, viel zu wenig, um an die Auswertung zu gehen. Unbürokratische Hilfe kam im Sommer dann aus Mittelfranken. „Hetzner online“, ein Rechenzentren- und Webhosting-Betreiber aus Gunzenhausen, bot Hilfe an. „Eine Woche später standen bei mir 30 Server“, sagt Markowetz. Noch immer staunt er über so viel Hilfsbereitschaft.

Erst so ist es gelungen, „den Deckel aufzumachen und mal vorsichtig reinzuschauen“, die Daten von 5000 Teilnehmern wurden bis jetzt grob ausgewertet. Im Schnitt wird das Smartphone drei Stunden täglich genutzt, es können aber auch viereinhalb Stunden sein. „Was man sofort sieht, ist das, was wir nicht mit Smartphones machen: telefonieren.“ Gerade mal zehn Minuten täglich wird auf diese Weise kommuniziert. Die meiste Zeit wird auf den Nachrichtendienst WhatsApp verwendet, es folgen Spiele, Facebook und andere soziale Netzwerke, Online-Fotodienste und vieles mehr: Das Smartphone ist Navigationsgerät, Taschenlampe, Wetterdienst, Uhr, Wecker, Musikanlage, Notizblock, Blutdruckmesser.

Sinnloses Multitasking

Oder anders: Es gibt immer etwas zu tun. „Wenn Sie drei Stunden ins Museum gehen, ist es wahrscheinlich, dass Sie hinterher einigermaßen entspannt rauskommen.“ Das Smartphone hingegen wird nicht drei Stunden am Stück für eine Sache genutzt, sondern immer wieder und parallel zu anderen Tätigkeiten, egal, ob in der Arbeit oder Freizeit.

Von diesen Ergebnissen war Markowetz überrascht — und auch entsetzt. „Das muss man sich mal vorstellen: Viele schauen alle zehn Minuten auf ihr Handy, um dann etwas damit zu machen oder auch nur, um zu kontrollieren, ob etwas passiert ist.“ Das bedeute, dass eine Tätigkeit nicht mehr am Stück durchgeführt, die Konzentration ständig unterbrochen wird. „Das ist sinnloses Multitasking“, sagt Markowetz. Es führt in seinen Augen weder zu Entspannung noch zu Zufriedenheit.

Aber warum tun das die Menschen dann überhaupt? Markowetz vermutet dahinter eine unterbewusste Entscheidung, die er in den Vergleich zu einem „kleinen Alkoholproblem“ rückt. Jeder, der zu viel trinkt, weiß, dass ihm das schadet. Trotzdem werden weiter die Gläser geleert — meist ohne bewusste Entscheidung. Das Problem ist nach Ansicht von Markowetz, dass es auch nicht möglich ist, sich dem Suchtobjekt dauerhaft zu entziehen. Smartphones sind überall und die Digitalisierung wird in Zukunft noch viel stärker in den Alltag rücken.

Markowetz findet deshalb, es sei höchste Zeit, dass sich die Gesellschaft Gedanken über den Umgang mit der Technik macht. Unternehmen müssten ihre Mitarbeiter sensibilisieren und ihnen erklären, dass auch tagsüber nicht jede Idee sofort in eine Mail gepackt werden muss.

Jeder müsse sich darüber klar werden, dass er mit seiner Nachricht auf der anderen Seite Konzentration abzieht. Und das Handy sollte ab Werk so konstruiert sein, dass es dem Nutzer Aufgaben stellt: „Heute verzichtest du auf Facebook.“ Oder: „Für die nächsten drei Stunden spielst du nicht mit mir.“ So etwas in der Art. „Wir müssen über den Wert der Aufmerksamkeit reden“, sagt Markowetz. Weil niemand Lust auf zweigeteilte Gehwege haben kann.

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