Experte räumt auf: Die neun Irrtümer der Digitalisierung

19.7.2018, 12:18 Uhr
Was erwartet uns in der digitalisierten Welt? Mehr Wissen, mehr Transparenz, mehr Individualität? Sollte man meinen. Doch wie so oft im Leben könnte es auch anders kommen.

© Peter Steffen (dpa) Was erwartet uns in der digitalisierten Welt? Mehr Wissen, mehr Transparenz, mehr Individualität? Sollte man meinen. Doch wie so oft im Leben könnte es auch anders kommen.

Wissen ist überall verfügbar

Es ist eine der Grundannahmen, die das Internet hervorgebracht hat. Fragen? Suchmaschinen wie Google oder Social-Media-Kanäle beantworten sie alle! Für Sascha Friesike ist diese Annahme nicht nur ein Fehler – sondern einer mit fatalen Folgen. "Denn das hieße, dass es genug Kontext-Informationen gibt, um neue Informationen zu generieren. Wäre dies der Fall, bräuchten wir keine Experten mehr." Eine Entwicklung, die fortschreite. So würden zwar an Hochschulen mehr Themen unterrichtet als vor Jahren – dies aber auf Kosten der Grundlagen. "Tatsächlich wird echtes Wissen immer seltener."

Man kann Innovationen gar nicht überschätzen

Doch. Sagt Friesike. "Neue Technologien werden hoffnungslos überschätzt." Und dies nicht erst im 21. Jahrhundert. So irrte schon der Ex-Chef von General Motors in den 80er Jahren gewaltig, als er mit dem Einzug des PC zugleich das papierlose Büro ausrief. Ob sich also Virtual-Reality-Brillen oder 3D-Drucker im Alltag der Menschen durchsetzen, ist für Friesike noch nicht ausgemacht.

Innovation bedeutet immer, Dinge zu verbinden

Viel werde dafür getan, damit Mitarbeiter sich gegenseitig inspirieren. Kurze Wege, keine Barrieren, Instant Messenger – sich einfach und schnell "verbinden", auch gerne im Großraumbüro. Doch immer mit dem gewünschten Erfolg? "Das Großraumbüro – auch Open Office genannt – ist gar nicht so offen, weil niemand mehr reinkommt, etwa durch zunehmende Sicherheitsmaßnahmen."

Eine gerade erschienene Harvard-Studie zeige zudem, dass die Kommunikation in Großraumbüros um 70 Prozent sinkt. Was früher mal eben mündlich besprochen wurde, werde nun öfter über E-Mails kommuniziert – mit mehr Aufwand. "Es hat sich gezeigt, dass Menschen ihre Dinge ungern vor Dritten besprechen."

Und auch der Kreativität sei diese Art der Umgebung nicht zuträglich, so der 34-jährige Wissenschaftler. "Es gibt eine spannende Untersuchung, wie sich die Arbeitsumgebung auswirkt." Demnach werde in harte und weiche Räume unterteilt. In weichen Räumen hätten Mitarbeiter eine gewisse Autonomie, die Umgebung selbst zu gestalten.

Der Trend im Zuge der Digitalisierung gehe aber hin zu harten Räumen." Kreativer und empathischer seien Menschen in weichen Räumen: "Und genau das brauchen wir, um Probleme zu lösen."

Künstliche Intelligenz wird Kreativität ersetzen

Nach Stationen an der Uni Würzburg und am Alexander von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft lehrt Friesike heute als Professor für digitale Innovation an der Uni in Amsterdam.

Nach Stationen an der Uni Würzburg und am Alexander von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft lehrt Friesike heute als Professor für digitale Innovation an der Uni in Amsterdam. © Foto: PR

"Vor 150 Jahren gab es schon einmal ähnliche Diskussionen – dass die damals gerade aufkommende Fotografie die Malerei ersetzen wird", so der Experte. Maler hängten ihre Kittel an den Haken und wurden Fotografen, weil sie glaubten, das realistisch gemalte Bild habe ausgedient. Stattdessen entwickelten sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte neue Kunstformen – wie die abstrakte Malerei. "Die Frage ist also nicht, wie die Künstliche Intelligenz die Kreativität ersetzen, sondern wie sie kreative Techniken verändern wird."

Wir brauchen JETZT eine App

Wer sich digital aufgeschlossen und vor allem innovativ geben will, bekundet dies mit einer App. Auch das garniert Friesike mit einem plastischen Beispiel. "Vor ein paar Jahren haben viele Kfz-Versicherer überlegt, für die Schadensregulierung eine App zu entwickeln. Ich hatte im vergangenen Jahr einen Unfall. Das Letzte, an was ich da gedacht habe, war, mir die passende App runterzuladen." Um eine solche zu nutzen, müsse man schon regelmäßig in Auto-Unfälle verwickelt sein, so sein Resümee. Dass zudem neuerdings für Apps die Blockchain-Technologie – eine kontinuierlich erweiterbare Liste von Datensätzen – genutzt werde, könnten die Unternehmen auch auf Nachfragen nur selten bis gar nicht erklären.

Wir müssen von Start-ups lernen

Klingt schick und sinnvoll. Bis Friesike das Phänomen seziert. "Ich habe viel mit Start-ups gearbeitet. Fast jeden zweiten Tag ist eine Gruppe älterer Herren in Anzügen durchgelaufen, um sich etwas abzuschauen. Inzwischen gibt es ganze Reisegruppen, die sich im Silicon Valley umsehen." Gut gemeint ist mitunter das Gegenteil von gut gemacht. "Zum einen sind es immer ältere Herren, die die Sprache der jungen Menschen in Start-ups nicht sprechen. Und zugleich wird die eigene Belegschaft demotiviert." Dieser werde das Generieren von guten Ideen oft erst gar nicht zugetraut. "Denn dann heißt es nicht selten: Gibt es ein Start-up dazu? Nein? Wäre es eine gute Idee, gäbe es eines."

Digitalisierung verändert die Gesellschaft

Schon möglich, meint Friesike. Doch eine generelle, vorherzubestimmende Richtung gibt es dabei nicht. "Wenn man ein und dieselbe Technologie auf verschiedene Gesellschaften wirft, wird jede Gesellschaft die Nutzung für sich anders aushandeln."

Transparenz führt zu Sichtbarkeit

Das Gegenteil sei der Fall: Je transparenter ein Vorgang, desto weniger sichtbar ist er. Beispiel gefällig? Als Datenschutzbestimmungen noch eine Seite lang waren, wurden sie eher gelesen als heute, wo sie auch mal 80 Seiten umfassen. Auf diese Art würden auch gerne Informationen versteckt. "Da werden in Gerichtsverfahren 80 Aktenorder geliefert, um die gesuchte zu verstecken. Mit zu viel Transparenz werden die Leute erschlagen."

Wir alle haben individuelle Präferenzen

Das ist schön, findet Friesike. Vor allem für die Firmen. Denn mit auf den Kunden zugeschnittenen Produkten – die die Digitalisierung erleichtere – lasse sich mehr Geld verdienen. Damit sei beispielsweise die Firma MyMüsli groß geworden. Dass sie aber nun einen guten Teil ihres Umsatzes mit Standardmischungen in Supermärkten verdiene, liegt daran, "dass es noch mehr Menschen gibt, die an individuellen Produkten nicht interessiert sind".

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