„Internet-Pranger“ verführt zum Mord

12.8.2010, 08:26 Uhr
„Internet-Pranger“ verführt zum Mord

© dpa

„Verschwinde, Du Perverser!“ schrieben Unbekannte mit roter Farbe an die Garagentür eines Hauses in Evansville im US-Bundesstaat Michigan, bevor sie das Fahrzeug in der Auffahrt anzündeten. Was die Brandstifter nicht wussten: Der vorbestrafte und im Internet registrierte Sexualstraftäter, den sie aus der Nachbarschaft vertreiben wollten, lebte einige Häuser entfernt — sie hatten sich bei ihrer rechtswidrige Aktion in der Anschrift geirrt.

Dieser Vorfall ist nur eines von Tausenden Beispielen für die dramatischen Folgen, die der in Deutschland derzeit vieldiskutierte „Internet-Pranger“ in den USA hat. Dort hat die Online-Veröffentlichung von persönlichen Daten von vorbestraften Sex-Verbrechern seit 1996 eine breite gesellschaftliche und rechtliche Akzeptanz gefunden — obwohl Bürgerrechtsorganisationen wie die „American Civil Liberties Union“ immer wieder vor einer Hetzjagd auf die Betroffenen warnen. Mehrfache Wohnungswechsel innerhalb kürzester Zeit sind für einen Teil der registrierten Personen mittlerweile die Norm.

Polizei informiert

Denn in vielen Bundesstaaten sieht das Gesetz vor, dass die örtlichen Polizeibehörden nicht nur die Daten des Straftäters online stellen, sondern auch Schulen, Kindergärten und Nachbarn mit Flugblättern über den Zuzug des Gebrandmarkten informieren. Dramatische Folgen hatte der „Internet-Pranger“ für William Elliott, dessen „Verbrechen“ darin bestand, als 19-jähriger mit seiner damals 15-jährigen Freundin wenige Tage vor ihrem 16. Geburtstag — der juristisch wichtigen Altersgrenze im Bundesstaat Maine — Sex praktiziert zu haben. Diese Fakten waren online nicht ersichtlich, als Stephen Marshall das Register durchforstete, um Opfer zu finden.

Marshall konnte lediglich lesen, dass Elliott vier Monate hinter Gittern verbracht hatte — und wo er seinen Wohnsitz hatte. Am 16. April 2006 fuhr Marshall zum Haus des Jugendlichen, wo er ihn dann erschoss. Am selben Tag ermordete er auch den 57-jährigen Joseph Gray, dessen persönliche Daten er ebenfalls — wie 27 weitere Adressen — willkürlich in den Internet-Datenbanken gefunden hatte. Jeder Bundesstaat in den USA entscheidet selbst, welche Informationen im Verzeichnis der Sex-Täter der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. In einigen Bundesstaaten sind nur Personen mit der größten Rückfall-Gefahr aufgeführt, während Staaten wie Maine jeden Vorbestraften ungeachtet der Schwere des Verbrechens und der Prognose ins Internet stellen.

Wohnsitz verloren

Selbst Zufalls-„Täter“ wie jene Männer, die nachts hinter einer Gaststätte urinierten und deshalb wegen öffentlicher Bloßstellung verurteilt wurden, finden sich deshalb gelegentlich hier wieder. Auch in den Bundesstaaten Washington und New Hampshire sind mittlerweile Morde an registrierten Haftentlassenen aktenkundig geworden, doch am „Internet-Pranger“ wollen die Behörden weiter festhalten.

Eine Studie in Florida ergab, dass zwar nur fünf Prozent der an den Pranger gestellten Personen persönlichen Angriffen und Verletzungen ausgesetzt waren, doch ein Drittel der Vorbestraften negative Erfahrungen machte. Diese reichten von Drohungen und Sachbeschädigungen bis hin zum Verlust des Wohnsitzes.