Interview: Afghanistans Ex-Präsident kritisiert USA scharf

24.4.2017, 09:47 Uhr
Hamid Karsai war von 2001 bis 2014 Präsident Afghanistans.

© Foto: dpa Hamid Karsai war von 2001 bis 2014 Präsident Afghanistans.

Herr Karsai, vor anderthalb Wochen warf die US-Luftwaffe bei einem Angriff auf Kämpfer der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die größte nicht-atomare Bombe auf die afghanische Provinz Nangarhar ab; angeblich wurden mindestens 36 IS-Kämpfer getötet. Am vergangenen Freitag haben die Taliban eine Militärbasis in der bisher ruhigen Provinz Balch angegriffen und mindestens 135 Soldaten getötet. Was geschieht da in Ihrem Land?

Hamid Karsai: Das ist eine Tragödie für Afghanistan, wenn unsere jungen Soldaten auf solche Weise sterben. Es ist schlimm, dass Terroristen so leicht in unsere Armeelager eindringen können. Das ist verdammenswert und wir fragen uns, wie das möglich ist. Hier gibt es eine starke US-Präsenz, die ganzen Geheimdienste. Dass so etwas dennoch passieren kann, macht viele Afghanen extrem zornig.

Ihr Nachfolger im Amt, Präsident Aschraf Ghani, hat den US-Luftangriff auf die IS-Kämpfer unterstützt. Sie dagegen haben den Angriff in starken Worten kritisiert.

Karsai: Der Abwurf dieser riesigen Bombe auf Afghanistan ist eine Verletzung unserer Menschenrechte. Es ist eine Verletzung unseres Landes, unseres Bodens, für unsere Umwelt. Ich verurteile das auf die stärkstmögliche Weise.

Sie haben auch Präsident Aschraf Ghani scharf dafür kritisiert, dass er dem Bombenangriff zugestimmt hat.

Karsai: Das ist richtig. Ich habe ihm gesagt, dass er sich energisch dagegen hätte aussprechen müssen. Das ist Verrat. Jeder Afghane, der den Abwurf einer Bombe von solcher Vernichtungskraft auf unser Land zulässt, ist ein Verräter.

Das ist das schlimmste Verbrechen gegen unser Land. Wie kann ein Verbündeter seinen eigenen Partner mit einer so schrecklichem Waffe bombardieren?

Die USA haben den Abwurf der "Mutter aller Bomben" damit gerechtfertigt, der IS sei in Afghanistan zu einer zu großen Gefahr geworden. Sie scheinen dieses Argument nicht wirklich zu glauben.

Karsai: Das ist Unsinn, blanker Unsinn. Sie haben das nicht gemacht, um den IS zu bekämpfen, sondern für ihre eigenen Zwecke, was immer diese gewesen sein mögen.

Sie haben also den Eindruck, dass die USA die Afghanen nicht mit genug Respekt behandeln.

Karsai: Die Amerikaner behandeln die Afghanen ohne jeden Respekt. Bei einem Alliierten eine solch zerstörerische Bombe abzuwerfen, zeugt in keiner Weise von Respekt. Es ist eine totale Respektlosigkeit. Ich verurteile das in den stärkstmöglichen Worten. Sie machen das immer und immer wieder.

Sie sagen damit im Grunde, die USA sollten Afghanistan schnellstmöglich verlassen, oder?

Karsai: Wenn sie Afghanistan mit der schlimmsten Waffe angreifen, die sie haben, wie können wir da ihre Präsenz weiter akzeptieren? Würden Sie das in Ihrem Land hinnehmen?

Was folgt daraus?

Karsai: Die Afghanen müssen ihr Land selbst regieren. Die USA sind in unser Land gekommen, um Extremismus und Terrorismus zu bekämpfen. Jetzt, da sie im Land sind, haben wir viel mehr Extremismus, mehr Terrorismus, viel mehr Leid und Todesfälle auf Seiten des afghanischen Volkes. Wenn wir an die jetzt getöteten Soldaten denken - wer kann das der afghanischen Bevölkerung erklären?

Denken Sie an die Angriffe aus Pakistan. Die Amerikaner haben weder diese Angriffe gestoppt noch haben sie die Grenzen gesichert. Und zu alledem werfen sie hier auch noch ihre gefährlichsten Bomben ab. So gesehen werden wir auf dreifache Weise getötet: Wir werden von den Taliban getötet, im Namen des IS, und wir werden von amerikanischen Bomben getötet.

Wie ist es angesichts der Präsenz der amerikanischen und der internationalen Kräfte in Afghanistan möglich, dass sich Taliban und IS weiter im Land ausbreiten können?

Karsai: Genau das ist die Frage. Genau das frage ich mich auch. Und das habe ich die USA immer wieder gefragt: Wie ist das möglich? Wenn das ein Versagen ist, wer ist dafür verantwortlich? Sind die Afghanen selbst schuld, liegt es am Verhalten der Amerikaner oder ist Pakistan dafür verantwortlich? Washington muss das erklären.

Wie bewerten Sie die Haltung von Präsident Aschraf Ghani in dieser Frage?

Karsai: Ich werde hier nicht interne Fragen kommentieren. Ich habe mich nur zu einer Frage geäußert, das war der Abwurf der amerikanischen Bombe. Zu anderen internen Themen möchte ich hier nichts sagen.

Sie haben im Jahr 2014 nach langen, kontroversen Verhandlungen das Bilaterale Sicherheitsabkommen (BSA) mit den USA unterzeichnet, das noch bis 2022 läuft. Wenn die Amerikaner das Land verlassen sollten, was ist die Alternative für Afghanistan?

Karsai: Sie meinen, wir sollten Alternativen für Bomben suchen? Die Alternative sind Frieden und Sicherheit für Afghanistan. Und dies kann es nur geben, wenn die Afghanen selbst ihre Geschicke lenken. Wir müssen verhindern, dass Kräfte von außen unser Land bestimmen. Wir müssen uns vereinen.

Eine von den USA am 13. April in der Provinz Nangarhar abgeworfene Riesenbombe tötete angeblich mindestens 36 IS-Kämpfer. Der Abwurf hat in Afghanistan sehr kontroverse Reaktionen ausgelöst.

Eine von den USA am 13. April in der Provinz Nangarhar abgeworfene Riesenbombe tötete angeblich mindestens 36 IS-Kämpfer. Der Abwurf hat in Afghanistan sehr kontroverse Reaktionen ausgelöst. © Foto: dpa

Das andere ist: Dieses Land und diese Region müssen zusammenkommen, und die USA müssen einen ernsthaften Teil dazu beitragen, damit Afghanistan wieder ein Platz der Zusammenarbeit werden kann und kein Land, das im Namen des Kampfes gegen den IS oder irgendeine andere Gruppe bombardiert werden kann.

Russland oder China wären vermutlich auch keine einfachen Partner für Afghanistan.

Karsai: Wir wollen nicht dieses Land gegen jenes Land ausspielen. Darum geht es nicht. Wir wollen ein Afghanistan, das mit allen anderen Staaten befreundet sein und mit ihnen kooperieren kann. So wie das einmal während meiner Amtszeit war. Die Amerikaner haben von den Russen Waffen für uns gekauft. Moskau hat ihnen umgekehrt Transportwege über sein Territorium zugesichert. Deutschland hat mit uns zusammengearbeitet, China, auch der Iran. Wir wollen ein Klima der Kooperation in Afghanistan, kein Klima des Wettringens. Die USA dürfen Afghanistan nicht zu einem Schauplatz des Wetteiferns machen. Sie dürfen das nie wieder zulassen.

Sind Sie zufrieden mit der Zusammenarbeit mit Deutschland?

Karsai: Deutschland war bisher ein großer Freund des afghanischen Volkes. Sie waren sehr freundlich zu uns. Ich bin dankbar, mich einen Freund Deutschlands nennen zu dürfen.

Würden Sie die Beziehungen gerne ausbauen?

Karsai: Das wäre überaus wünschenswert. Das war meine Mission vom Anbeginn meiner Präsidentschaft und ist es bis heute. Ich wünsche mir noch engere Beziehungen zu Deutschland.

An welche Felder der Zusammenarbeit denken Sie da?

Karsai: Nun, wir haben reiche Vorkommen an Bodenschätzen. Deutschland könnte hier mehr investieren. Die deutsche Industrie ist schon seit mehr als 100 Jahren in Afghanistan extrem beliebt und respektiert. Deutschland könnte mehr Güter hier verkaufen, es könnte mehr von uns kaufen. Es könnte da noch mehr Austausch geben. Unglücklicherweise wird das bisher nicht genügend genutzt.

Es hat den Anschein, als würde die Unterstützung für den derzeitigen Präsidenten Aschraf Ghani stark abnehmen. Haben Sie Ambitionen, wieder in das Präsidentenamt zurückzukehren?

Karsai: Nein, ich will nicht in das Präsidentenamt zurückkehren. Ich habe meinen Job gemacht. Jetzt müssen wir jüngere Afghanen unterstützen, die das Land in eine hoffentlich bessere Zukunft führen müssen. Ich habe meine Arbeit erledigt. Meine einzige Aufgabe jetzt ist es, meinen Beitrag zu leisten, um mehr Frieden und Stabilität für Afghanistan zu erreichen. Das werde ich als Bürger dieses Landes tun.

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