Mit dem Zug zur Todesrampe

23.3.2010, 00:00 Uhr

Es war eine mit härtesten Bandagen geführte Fehde, die sich Nürnbergs damaliger Kulturreferent Hermann Glaser ab 1982 mit der Bundesbahn-Spitze lieferte. Die nämlich lehnte eine Auseinandersetzung mit der Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit entschieden ab: Horst Weigelt, damals Präsident der Bundesbahndirektion Nürnberg, war der Meinung, »dass die Rolle der Eisenbahn bei der Judenverfolgung im Dritten Reich nicht zum Gegenstand der Eisenbahnausstellung 1985 gemacht werden sollte und dass es nicht zu den Aufgaben der Vorbereiter dieser Ausstellung gehöre, eingehende Forschungen zu diesem Thema anzustellen».

»Dem Reich wir dienen»

»Dieses Thema» war bis dahin nur wenig aufgearbeitet worden: wie die Reichsbahn unter den Nationalsozialisten zu einem Werkzeug für die planmäßige Vernichtung von Juden und anderen verfolgten Minderheiten wurde. »Dem Reich wir dienen auf Straßen und Schienen»: So lautete das Unternehmens-Motto der Reichsbahn, die von Adolf Hitler auch mit der Bauleitung der Autobahnen (mit der in Nürnberg ansässigen Konzerntochter »Reichsautobahnen») beauftragt worden war.

Bezeichnend dafür, wie sehr das Regime auch die Bahn vereinnahmte, war die 100-Jahr-Feier der ersten Fahrt des »Adlers» 1935: Höhepunkt der Festivitäten war eine pompöse Lok-Parade am 8.Dezember 1935 auf dem Gelände des Rangierbahnhofs, zu der der »Führer» selbst erschien.

Wenige Monate zuvor hatte Hitler auf dem Reichsparteitag 1935 mit den Nürnberger »Rassegesetzen» eine weitere Weiche für die Verfolgung der Juden und anderer Minderheiten gestellt. Aus der Reichsbahn, deren Logistik auch die Massenveranstaltungen der Nürnberger Parteitage erst möglich machte, wurde ein Unternehmen im Dienste des Krieges und der Massenvernichtung.

Auch hier zeigte sich jenes Doppelgesicht, mit dem der Historiker Hans-Ulrich Thamer den Nationalsozialismus charakterisierte - »Verführung und Gewalt»: Verführung, das waren die Billig-Angebote der Urlaubs- und Ausflugs-Zugfahrten mit der NS-Freizeitorganisation KdF (»Kraft durch Freude»). Gewalt, das war die Beanspruchung des Schienennetzes für den Abtransport in den Tod, vor allem an die Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

»Räder müssen rollen für den Sieg», hieß eine Propaganda-Aktion der Nationalsozialisten 1942. Die Räder rollten nicht nur an die Front, sondern auch zu den Gaskammern: Rund drei Millionen Opfer, so übereinstimmende Schätzungen, fuhren mit der Reichsbahn in den Tod. Dabei wurden die Menschen nicht wie Passagiere behandelt, sondern wie Transportgut. Man pferchte sie oft in rettungslos überfüllte Güterwaggons - viele überlebten schon die Fahrt nicht. »Sämtliche zu verladende Juden»: So steht es in einem Schreiben der Reichsbahn aus dem August 1942, und die Wortwahl ist verräterisch: »Verladen» werden eben Waren, keine Menschen.

Von nichts gewusst?

»Seit dem 22. 7. fährt täglich ein Zug mit je 5000 Juden von Warschau über Malkinia nach Treblinka, außerdem zweimal wöchentlich ein Zug mit 5000 Juden von Przemysl nach Belzek», schrieb Verkehrs-Staatssekretär Albert Ganzenmüller 1942 an die Spitze der SS - ein Dokument, das die Aktivitäten der Reichsbahn beim Abtransport in den Tod belegt. Doch 1973, als ihm der Prozess gemacht wurde, wollte Ganzenmüller von nichts gewusst haben; das Verfahren wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt.

Auch aus Nürnberg wurden Juden abtransportiert; belegt ist eine Zahl von mindestens 1632 Deportierten - lediglich 72 von ihnen überlebten. Es gibt eine Fülle von erschütternden Dokumenten für diese Fahrten; Hermann Glaser zitiert in seiner gerade erschienenen »Kulturgeschichte der Deutschen Eisenbahn» (Schrenk Verlag, 228 Seiten, 29,90 Euro) aus den Erinnerungen von Grete Salus: »Wir fuhren 32 Stunden, einen Nachmittag, eine Nacht und einen Tag. Im Waggon waren zwei kleine Gucklöcher und da stand immer einer, um zu berichten, wo ungefähr wir uns befanden. Wenn zufällig draußen jemand vorüberging, riefen wir mit angstgepressten Stimmen: ,Wohin fahren wir, bitte sagen Sie uns, wohin wir fahren.‘»

Dokumentiert wurde dieses Kapitel 1985 dann übrigens doch, vom neu entstandenen Centrum Industriekultur. Jürgen Franzke war damals mit im Team, das die Schau um die NS-Zeit ergänzte. Nun ist er Leiter des DB Museums Nürnberg, das seit 2002 eine Abteilung über die Rolle der Bahn im Nationalsozialismus hat.

Doch auch gegen den »Zug der Erinnerung», eine Wanderausstellung, die seit November 2007 in vielen Bahnhöfen Station machte und vor allem die Deportation von Kindern darstellte, wehrte sich der damalige Bahn-Chef Hartmut Mehdorn lange heftig. Erst 2010 ist der Weg frei für eine umfassende Aufarbeitung: Die Ausstellung »Das Gleis» im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände liefert neue Einblicke in die Schicksale der Opfer.