Mit Fleiß und Demut

22.8.2016, 20:30 Uhr
Mit Fleiß und Demut

© Reuters

Natürlich hat sich etwas verändert in all den Jahren, wenn man genau hinsieht gewaltig sogar. Aber die schmale Treppe hinauf zu den Trainingsräumen, sie knarzt noch immer ein wenig. Auch der Putz ist noch dunkellila gestrichen, der wilde Wein klettert weiter die Fassade hinauf. An die hat Özer Gülec in den vergangenen vier Jahren ein paar Schilder mehr geschraubt: Bundesstützpunkt steht auf einem, Landesstützpunkt auf einem anderen.

Geht man die schmale Treppe hinauf, dann wirkt dort oben die Reihe an Kindern endlos, was auch an dem riesigen Spiegel am Ende des Raums liegt. Mindestens 30 Kinder tummeln sich auf den blauen Matten, immer wieder klatscht es laut, wenn die Jungen und Mädchen mit ihren Füßen gegen die Schaumstoffpolster treten.

Ein Pfiff ertönt — und es herrscht Ruhe. Alle Blicke richten sich jetzt auf einen kleinen Mann in der Mitte, den manche der Jugendlichen bereits überragen. Doch auch sie trauen sich nicht dazwischenzusprechen, während er die nächste Übung ansagt.

Er tut das mit einer einzigartigen Mischung aus Autorität und Herzlichkeit, die er auch optisch vermittelt. Hier die streng zurückgegelten dunklen Haare, die knappen, lauten Sätze, dort das verschmitzte Lächeln. Vielleicht erklärt diese Kombination, wieso der Betreuungsschlüssel hier egal ist. Wo in Kindertagesstätten, im Idealfall, drei bis vier Betreuer zuständig sind, genügt in der Taekwondo-Schule in der Findelwiesenstraße nur er, dessen Name in großen grünen Buchstaben an der Wand steht: „Özer.“

Özer Gülec ist der große kleine Mann des Taekwondo in Nürnberg. Und in Deutschland.

Der Beweis dafür wiegt schwer. Unzählige Pokale stehen auf dem knapp unter der Decke angebrachten Regal im Erdgeschoss. Einst war das ein Asylbewerberheim, Özer hat es gekauft und zu einem Trainingszentrum umgebaut. Die Auszeichnungen stehen so dicht aneinander, dass eigentlich keine mehr dazukommen darf. Doch das ist unrealistisch: Zehn Bundes- und zwanzig Bayernkader-Athleten stellt das Team Özer — bei gerade einmal 100 Mitgliedern.

Oben im zweiten Stock geht das Training weiter. Özer Gülec benötigt dafür nur seine Pfeife und eine Schaumstoff-Rolle, die schon mal auf einem der Köpfe landet, falls eines der Kinder doch nicht spurt.

Wer neu dabei ist, sagt Alfred Castaño, hat zuerst vielleicht ein wenig Angst vor dem Cheftrainer. „Aber die Kinder kommen schnell dahinter, wie er tickt“, sagt der Vorsitzende. Und sie verstehen, was Özer Gülec will: Jeden seiner Schüler besser machen.

Das gelingt: 2013 in Mexiko wird Tahir Gülec, Özers Neffe, Weltmeister, der bislang größte Erfolg. Überhaupt sind es Özer Gülec’ Neffen und Nichten, die das Taekwando in Nürnberg, nein, in Deutschland repräsentieren. Aus dem Hinterhof der Südstadt hinein in die Weltspitze – das ist das Gülec-Prinzip.

2008 in Peking nimmt Özers Nichte Sümeeye Manz erstmals an Olympischen Spielen teil, 2012 in London wieder. In Rio de Janeiro waren es nun Bruder Tahir und die jüngere Schwester Rabia. Der jüngste Gülec, Malik, wird die Tradition fortsetzen, „er ist der Beste“, sagt sein Onkel. Warum? „Weil er auch von den Erfahrungen der anderen drei profitiert.“

Tränen und Kopfschütteln

Die Erfahrungen bei Olympischen Spielen sind bislang aber vor allem ernüchternd. „Ich habe versucht, mein Bestes zu geben, aber irgendwie konnte ich gerade gar nichts. Ich konnte einfach nicht das zeigen, was ich in mir habe“, sagte die 22 Jahre alte Rabia nach ihrem Viertelfinal-Aus unter Tränen. Und Tahir kam etwas später kopfschüttelnd zur selben Erkenntnis: „Es war heute nicht mein Tag. So schlapp wie heute habe mich noch nie gefühlt.“

Mit Fleiß und Demut

© Stefan Hippel

Sümeyye war 2008 und 2012 jeweils in der ersten Runde ausgeschieden, die überstand das Geschwisterpaar in Rio noch mehr oder weniger souverän. Für sie kam das Aus im Viertelfinale. Tahir Gülec durfte dann noch etwas länger zittern, weil sein Gegner aus der Elfenbeinküste ins Duell um Gold einzog — für Tahir bedeutete das im eigenwilligen Modus des Wettbewerbs die Hoffnungsrunde um Bronze, doch gegen den Polen Piotr Pazinski zog er mit 5:6 in der Verlängerung den Kürzeren. Seiner Schwester und Trainingspartnerin blieb die Hoffnungsrunde ganz verwehrt.

Gemeinsam als Geschwisterpaar bei Olympia zu starten, das sei weniger ein Traum als vielmehr „doppelt anstrengend“ gewesen, sagt Tahir Gülec. „Du fieberst mit ihr mit, dann hast du einen eigenen Kampf — da bist du immer unter Adrenalin.“ Schon bei Sümeyye hatte der Druck, sie alle zu Hause in der Findelwiesenstraße stolz und glücklich zu machen, alle Träume platzen lassen. Tahir fand man nach dem Wettkampf seiner Schwester vor vier Jahren etwas abseits hinter einem Gebüsch mit feuchten Augen. „Sie wollte uns nicht enttäuschen“, sagte er damals. Diesmal wurde derselbe Druck seiner Schwester und ihm voraussichtlich zum Verhängnis.

Die Schule und Taekwondo bedeuten aber vor allem Onkel Özer alles. 2004 hat er den Verein gegründet, für ihn hat der gelernte Automechaniker sogar seinen Beruf aufgegeben. Heute tragen zig Taekwondoka seinen Namen, wenn sie an Turnieren teilnehmen. Das ist ihm wichtig. Sie sollen seinen Namen tragen, er ist für sie verantwortlich. Bei Siegen, bei Niederlagen, egal. So auch jetzt wieder, bei Rabia und Tahir.

„Ich will wieder ganz oben sein. Das wird klappen, bei meiner Schwester genauso“, sagt Tahir. Das neue Ziel heißt Tokio, 2020. Das haben sie und Onkel Özer längst im Kopf.