Nach Aus für Jamaika-Koalition: Merkels Macht schwindet

21.11.2017, 05:57 Uhr
Den Blick nach unten gerichtet: Angela Merkel verlässt nach dem Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Schloss Bellevue. Sie war dort nicht als Wahlsiegerin aufgetreten, sondern als eine Frau, die sich vom Staatsoberhaupt helfen lassen muss.

© Odd Anderson/AFP Den Blick nach unten gerichtet: Angela Merkel verlässt nach dem Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Schloss Bellevue. Sie war dort nicht als Wahlsiegerin aufgetreten, sondern als eine Frau, die sich vom Staatsoberhaupt helfen lassen muss.

Die Bundeskanzlerin wirkte im schlimmsten Moment ihrer Karriere fast ein wenig schulmädchenhaft schüchtern. Vielleicht war sie überrascht, dass sie nach dem Platzen der Jamaika-Gespräche von allen noch anwesenden Teilnehmern, auch von den Grünen, mit Applaus begrüßt wurde. Und dass ausgerechnet Horst Seehofer, aus luftiger Höhe zu ihr herabblickend, für die gute Verhandlungsführung dankte. Da hat man auch ganz andere Szenen mit den beiden im Kopf. Jedenfalls lächelte Angela Merkel peinlich berührt angesichts all der Freundlichkeiten, die da über sie hereinbrachen.

Es war 1 Uhr in der Nacht, als Christdemokraten, Christsoziale und Grüne den Sitzungsraum in der baden-württembergischen Landesvertretung verließen, in dem sie zuletzt mehr als ein Dutzend Stunden verbracht hatten. Sie sahen aus wie Kinogänger, die aus einem Gruselfilm kommen und sich – geblendet vom Licht – nicht sofort mit der Wirklichkeit anfreunden können. Die eigentlichen Übeltäter – aus Sicht von Schwarz-Grün zumindest –, nämlich die Liberalen, waren da schon eine Dreiviertelstunde lang weg. So viel Zeit hatten die Übrigbleibenden offensichtlich gebraucht, um zu verstehen, was da überhaupt geschehen war.


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Trotz aller Solidaritätsbekundungen für Angela Merkel steht eines unverrückbar fest: Sie war nun mal die Verhandlungsführerin bei den gescheiterten Gesprächen. Sie trifft also wenigstens ein Teil der Verantwortung. Von ihren eigenen Leuten sagte das keiner. Aber der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach traf am Tag danach ziemlich genau das, was viele dachten: "Merkel wollte und konnte zu wenig tun, um Jamaika durchzusetzen. Ihre Autorität ist weg, sie kann das Amt der Kanzlerin nicht mehr ausfüllen." Letzteres ist vielleicht nach gegenwärtigem Kenntnisstand noch etwas zu forsch formuliert, aber zumindest die Frage nach ihren Fähigkeiten stellt sich. Und alleine das heißt schon etwas.

Bisher war es in Koalitionsgesprächen stets die Machttaktik der CDU-Vorsitzenden gewesen, selbst möglichst wenig in Erscheinung zu treten, erst mal die Extreme aufeinanderprallen zu lassen (wahlweise SPD und CSU oder FDP und CSU), um dann am Ende einen Kompromissvorschlag abzusegnen. Das hat jetzt nicht mehr funktioniert. Ist damit auch etwas vom Mythos Merkel verloren gegangen? Zumindest wird jetzt hinter vorgehaltener Hand kritisch angemerkt, sie hätte sich ja schon etwas früher mit einer klaren Position einbringen und die Verhandlungen nicht so lange vor sich hin dümpeln lassen können.

Für die geschäftsführende Kanzlerin zeichnet sich momentan kaum ein Weg ab, wie sie wieder zu einer echten Kanzlerin mit Regierungsmehrheit im Bundestag werden könnte. Eine enorme Falltiefe, wenn man bedenkt, dass es sich um die mächtigste Frau der Welt handelt (so die mehrfache Auszeichnung), außerdem um die Kanzlerin, die in der kommenden Legislaturperiode mit den 16 Jahren des Rekordkanzlers Helmut Kohl gleichziehen wollte. Jetzt muss die 63-Jährige auf einmal kleinere Brötchen backen.

Das wurde schon am Tag eins nach dem Jamaika-Desaster deutlich. Da hatte sie einen Termin beim Bundespräsidenten. Sie trat dort nicht als überlegene Kanzlerin und Wahlsiegerin an, sondern als eine Frau, die sich vom Staatsoberhaupt helfen lassen muss – zum Beispiel, indem er die regierungsmüde SPD zu einer Koalition überredet. "Ihre Politik des Moderierens ist vor die Wand gefahren", kündigte im Laufe des Nachmittages schon mal wenig freundlich Fraktionschefin Andrea Nahles an. War da schon eine Forderung nach einem Auswechseln der Bundeskanzlerin herauszuhören?

Ein historischer Tag

Die meisten denkbaren Wege zu einem Kabinett Merkel IV führen über Demütigungen. So etwa die Minderheitsregierung. Angela Merkel müsste bei SPD und/oder Liberalen um eine Tolerierung bitten und wäre Tag für Tag auf das Wohlwollen dieser Oppositionsparteien angewiesen. Noch schlimmer der Weg zu Neuwahlen: Die Kanzlerin, immerhin seit zwölf Jahren im Amt, müsste dreimal nacheinander im Parlament zur Wahl antreten und verlieren. Erst dann könnte der Bundestag aufgelöst werden. Aber dann wäre aus der seit 2005 ununterbrochen siegreichen CDU-Vorsitzenden unweigerlich eine Verliererin geworden, wenn auch nur eine taktische Verliererin.

Sie selbst scheint fest entschlossen, nicht aufzugeben. In einem ARD-
"Brennpunkt" ließ sie wissen, sie habe ihren Wählern und den Bürgern gerade erst vor zwei Monaten versprochen, weitere vier Jahre Regierungschefin zu bleiben. Da könne sie nicht jetzt einfach dankend verzichten, weil die Umstände schwieriger werden. Es entspräche auch nicht im Geringsten der Denkweise Angela Merkels, einfach so hinzuwerfen. Hatte sie doch noch bei ihrer jüngsten Sommer-Pressekonferenz verkündet, sie wolle den Moment ihres Ausstiegs aus der Politik schon selbst bestimmen.

Dass es etwas ganz Besonderes war, was sich in der Nacht von Sonntag auf Montag ereignet hatte, war der Kanzlerin natürlich sofort klar gewesen. Das floss dann auch in ihre kurze Ansprache in der baden-württembergischen Landesvertretung ein. Man habe es mit "einem wirklich, ich würde fast sagen: historischen Tag" zu tun. Das "fast" hätte sie auch gut und gerne weglassen können.

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