TTIP: Warum grenzenloser Handel Ausbeutung ist

24.4.2016, 06:00 Uhr
Könnte die Fluchtkrise auch etwas mit unserem Konsumverhalten zu tun haben? Entwicklungsminister Gerd Müller sieht das so.

© Foto: Reuters Könnte die Fluchtkrise auch etwas mit unserem Konsumverhalten zu tun haben? Entwicklungsminister Gerd Müller sieht das so.

Der Papst hat bei seinem Besuch in dem Aufnahmelager auf der griechischen Insel Lesbos gefordert, dass die Weltgemeinschaft ihre Anstrengungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise erheblich verstärken müsse. Müssen sich da nur EU-Staaten wie Polen, Tschechien, die Slowakei oder Dänemark angesprochen fühlen, oder auch die Bundesrepublik?

Gerd Müller: Der Papstbesuch war einmal mehr ein Weckruf an die Weltgemeinschaft. Was sich in und um Syrien und den Irak abspielt und auch der damit verbundene Flüchtlingsstrom sind kein deutsches, ja nicht einmal ein ausschließlich europäisches Problem. Es betrifft die ganze Weltgemeinschaft. Bei der Frage nach den Ursachen dieses Konflikts tragen hier viele eine erhebliche Mitverantwortung. Und da würde ich mir mehr Engagement erwarten, von den Amerikanern, den Russen, aber auch von den arabischen Staaten.

Tut Deutschland denn genug?

Müller: Deutschland tut eine ganze Menge. Wir haben unsere Mittel für die Syrien- und Irak-Krise in den vergangenen zwei Jahren verdreifacht. Wir haben in unserem Haushalt umgeschichtet, um Hunderttausenden Familien in Jordanien, Libanon, dem Nordirak oder der Türkei ein Dach über dem Kopf, Gesundheitsversorgung und den Kindern Schulplätze zur Verfügung zu stellen. Wir haben unsere Mittel für das Welternährungsprogramm und Unicef massiv angehoben. Wären hier mehr Länder unserem Beispiel gefolgt, wären die Menschen nicht zu Hunderttausenden geflohen.

Mit zehn Milliarden Euro aus bestehenden EU-Töpfen hätten wir die ganze Region um Syrien und den Irak stabilisieren können. Dieses Versäumnis kommt uns jetzt teuer zu stehen. Sie wissen, dass die Kosten für die Flüchtlinge in Deutschland auf 25 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt werden. Jeder Euro ist hier richtig und gut, aber zur Wahrheit gehört, dass wir vor Ort mit jedem Euro ein 20- bis 40-faches leisten können.

"Das Mittelmeer trennt uns nicht"

Gerade haben wir wieder eine Bootstragödie mit vielen Toten erlebt. Doch um die Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen, tun die Europäer bisher auch nicht wirklich viel.

Müller: Die Flüchtlingsherausforderung ist ein Generationenthema. Die Bevölkerung Afrikas wird sich in den nächsten 30 Jahren von über einer Milliarde auf über zwei Milliarden Menschen verdoppeln.

TTIP: Warum grenzenloser Handel Ausbeutung ist

© Foto: Stefan Hippel

Das ist eine gewaltige Aufgabe. Deswegen müssen wir Entwicklungspolitik in einer ganz neuen Dimension gestalten, auch als Querschnittsaufgabe für Wirtschafts-, Umwelt- und Klimapolitik: 15 Millionen Klimaflüchtlinge sind bereits unterwegs. Bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlinge bis 2050 sagen Klimaexperten voraus. Die Zeiten, in denen wir die Kolonialpolitik in modernem Stil fortsetzen, indem wir die Ressourcen der Entwicklungsländer, Öl, Coltan, Gold oder seltene Erden, ausbeuten, ihnen aber keine fairen Preise dafür zahlen, müssen beendet werden.

Da hätten wir ein schönes Beispiel: Tunesien, das Land, in dem der Arabische Frühling begann, braucht dringend unseren Beistand. Doch anstatt die Märkte für die Tunesier und ihre Nachbarn zu öffnen, sorgten Niederländer und Deutsche dafür, dass die Tunesier nicht mehr als 750 Tonnen Schnittblumen pro Jahr in die EU ausführen dürfen. Zum Vergleich: Holland exportiert jedes Jahr 150.000 Tonnen Blumen nach Deutschland.

Müller: Das ist genau der Kernpunkt. Wir brauchen ein Wirtschafts-Partnerschaftsabkommen, das den nordafrikanischen Raum, die Maghreb-Staaten, mit Europa in einer gemeinsamen Wirtschaftszone vereint. Das Mittelmeer trennt uns nicht, es verbindet uns, wir sind Partner. Das bedeutet ganz konkret eine Öffnung der Märkte, Stabilisierung der Wirtschaft in diesen Ländern und berufliche Bildung für die jungen Menschen. Ich baue hier auch auf unseren Wirtschaftsminister, der die Region jetzt bereist hat und sich auch genau in diese Richtung geäußert hat.

Sigmar Gabriel hat vor drei Monaten mit seinem französischen Kollegen angekündigt, einen Zehn-Milliarden-Euro-Fonds aufzulegen, um genau in diese Länder zu investieren. Ägypten wird bald 100 Millionen Einwohner haben. Davon sind etwa 20 Millionen im Alter zwischen 15 und 25 – und 60 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Wenn wir es nicht als gemeinsame Aufgabe begreifen, dieser Jugend eine Zukunft zu bieten, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie mit Blick auf den Wohlstand in Europa den Weg über das Mittelmeer als letzten Ausweg sehen.

Der Kolonialismus lebt

Sie mahnen fairen Handel an. Auf der Agenda aber stehen derzeit Freihandelsabkommen, die mit fairem Handel nicht viel zu tun haben. Das ist genau das Gegenteil von dem, was aus Ihrer Sicht notwendig ist.

Müller: Deshalb sage ich, dass wir von einem freien zum fairen Handel kommen müssen. Im Moment haben wir die Situation, dass zehn Prozent der Weltbevölkerung 90 Prozent des Vermögens für sich beanspruchen und 20 Prozent - dazu gehören wir Deutschen und die Industriestaaten - 80 Prozent der Ressourcen verbrauchen. Und diese Ressourcen kommen zum ganz erheblichen Teil aus den Entwicklungsländern. Kein Automobil in Deutschland könnte gefertigt werden ohne die seltenen Erden aus Südafrika. Kein Handy würde funktionieren, wenn wir das Coltan aus dem Kongo nicht hätten. Und vieles andere mehr.

Das heißt, in gewisser Weise lebt der Kolonialismus weiter.

Müller: So kann man das sagen. Ich habe diese Minen gesehen, die Kinderarbeit, sklavenähnliche Zustände, weil wir nicht bereit sind, am Anfang der Lieferketten den Arbeitern faire, existenzsichernde Löhne zu bezahlen, auf Kinderarbeit zu verzichten und auch die ökologischen Standards umzusetzen, die unsere Verbraucher hier erwarten.

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