Beim G8 ist ein echter Befreiungsschlag fällig

5.7.2012, 12:01 Uhr
Beim G8 ist ein echter Befreiungsschlag fällig

© André De Geare

Kann gut sein, dass es beim Dauerverdruss-Thema G8 bald nach dem schönen Motto läuft: Es muss etwas geschehen, damit nichts passiert.

Mit Bildungsthemen kann man Wahlen kaum gewinnen, aber sehr wohl verlieren. Das musste Schwarz-Grün in Hamburg leidvoll erfahren, die CDU in Nordrhein-Westfalen auch. Und zum Absturz der 50 Jahre lang siegverwöhnten CSU bei der letzten Landtagswahl trug der von Edmund Stoiber durchgesetzte, abrupte Schwenk zum verkürzten G8 gewiss nicht den geringsten Teil bei.

Dass der selbe Stoiber das traditionsreiche bayerische Gymnasium (also das G9) kurz vor der Kehrtwende noch in den höchsten Tönen gepriesen hatte, lastete von vorneherein als schwere Hypothek auf dem G8. Mehrere Kultusminister, von Monika Hohlmeier über Siegfried Schneider bis zu Ludwig Spaenle haben sich gemüht, das Beste aus der Situation zu machen.

Manche mit zweifelhaften Methoden, manche seriöser. Aber wirklich geholfen haben mehrfachen Straffungen des Lernstoffes, das Herumbasteln an der Stundentafel, die Begrenzung der maximalen Wochenstunden in der Mittelstufe und andere „Nachjustierungen“ bis heute nicht.

Berechtigter Ärger

Der Ärger vieler Lehrer, Eltern und Schüler blieb, und zwar zu Recht. Und jetzt, da der zweite G8-Jahrgang bereits die Abitur-Zeugnisse erhalten hat, schwillt ein vielstimmiger Chor mit allen möglichen Forderungen noch einmal so richtig an.

Kommando zurück das G8 wieder abschaffen, sagen die einen. Um Gottes willen, nur das nicht, schallt es von der anderen Seite. Den Stoff ein letztes mal mutig durchforsten, mehr individuelle Förderung, ein (freiwilliges) Intensivierungsjahr nach der Mittelstufe. All das ist zu hören. Oder ein „Gymnasium der zwei Geschwindigkeiten“, ohne dass klar wäre, wie das zu organisieren wäre.

Warum kocht die Debatte jetzt hoch? Die nächste Landtagswahl rückt näher, und es gibt mit Christian Ude erstmals seit ewigen Zeiten einen SPD-Herausforderer, den die CSU bitter ernst nehmen muss. Damit gewinnt der unterschwellige Ärger über die Schwächen im bayerischen Bildungssystem eine echte politische Brisanz. Und die merklich erhöhte Durchfaller-Quote beim Abitur im G8 war nach den Turbulenzen mit der hektisch geänderten Notengewichtung im schriftlichen Abitur des letzten Jahres bereits das zweite große Warnsignal.

In einer solchen Gemengelage sind ein paar grundlegende Überlegungen fällig. Und es empfiehlt sich ein Blick auf die Fakten, mit kühlem Kopf und weniger mit heißem Herzen. Tatsache ist zum Beispiel, dass ein großer Teil der Schüler mit dem (schon mehrfach reformierten G8) ganz gut zurecht kommt. So viele Einser-Abiturienten hat es auf dem alten G8 in der Regel nicht gegeben. Auch die Quote der Wiederholer über alle Jahrgangsstufen hinweg ist im verkürzten Gymnasium eher niedriger als es früher der Fall war. Und das, obwohl heute in Teilen Bayerns 50 und mehr Prozent eines Jahrgangs das Gymnasium besuchen. Die Intensivierungsstunden bringen also tatsächlich etwas.

Viele Gymnasiallehrer geben sich sehr viel Mühe, wenn es darum geht, Schülern zu helfen, die sich schwer tun. Man kommt nicht mehr so schnell auf die Idee, solche Kinder gehörten eigentlich nicht aufs Gymnasium, sie sollten lieber „zurück“ an Real- oder Mittelschule gehen. Kurzum: Das G8 ist pädagogisch gesehen durchaus keine Katastrophe.

Auf der anderen Seite gibt eine bedenkliche Spreizung bei den Schülern. Die sehr guten Noten nehmen zu. Aber es wandeln auch immer mehr Schüler notenmäßig  am Abgrund. Das stabile Mittelfeld wird dünner.

Es muss also etwas für jene getan werden, denen das anstrengende, auf Leistung und Tempo angelegte G8 zu viel abverlangt. Die aber durchaus geeignet sind, zu studieren. Solche Potenziale zu vernachlässigen, können wir uns nicht leisten. Ein Befreiungsschlag für diese Schüler und ihre Eltern ist fällig.

Warum sollte es nicht möglich sein, wie es etwa der Philologenverband vorschlägt, einen G9-Zug an jedem Gymnasium anzubieten, in größeren Städten auch „reine“ G9-Schulen? Es geht vor allem um die Möglichkeit, sich auf dem Weg zum Abitur ein Jahr mehr Zeit zu nehmen. Wer sich den kürzeren Weg zutraut, soll ihn gehen. Aber er soll, durch die Alternative G9 zwischendurch auch ohne das Gefühl des Scheiterns wechseln können.

An den Hochschulen sind viele Studiengänge ohnehin schon auf Tempo getrimmt. Das muss nicht auch schon am Gymnasium sein. Zeit zum Vertiefen, zum Innehalten und zum neuen Nachdenken, das ist kein Luxus. Bildung im umfassenderen Sinn, über das Aneignen von umfassendem Fachwissen hinaus, braucht diese Zeit.

Schnell, schnell, schnell

Der Mensch lebt vom Denken, vom Lernen aus seinen Fehlern, nicht in erster Linie vom Büffeln. Schnell durch die Schule, dann schnell durch die Uni und schnell in den Beruf — das ist eben nicht alles. Bisher scheint Kultusminister Ludwig Spaenle der Mut zu fehlen, einen großen Schritt zu gehen. Er muss aber aufpassen. Sein Chef Horst Seehofer ist für Überraschungen immer gut. Kollege Volker Bouffier in Hessen hat das G9 wieder als Angebot aus dem Hut gezogen, über den Kopf seiner Kultusministerin hinweg. So etwas könnte Seehofer gut gefallen.

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