Erhard-Zentrum: Busse voller Chinesen und Japaner erwartet

20.4.2018, 17:52 Uhr
Erhard-Zentrum: Busse voller Chinesen und Japaner erwartet

© Hans-Joachim Winckler

Herr Professor Koerfer, woran dachten Sie, wenn Sie "Fürth" hörten, bevor Sie als Kurator für das Ludwig-Erhard-Zentrum (LEZ) tätig wurden?

Daniel Koerfer: Ganz ehrlich — an Fußball. Und dabei natürlich an die Rivalität Nürnberg-Fürth, auch an die Rivalität zwischen den beiden Städten. Und an Henry Kissinger. Ludwig Erhard hatte ich erst auf dem Schirm, als er 1945 bayerischer Minister wurde – ich habe vor 30 Jahren in meinem Buch über Erhard und Adenauer die Zeit davor weitgehend ausgeblendet, anders als im LEZ, wo es sehr viel darüber gibt.

Und wie sehen Sie Fürth jetzt?

Koerfer: Eine ziemlich lebendige Stadt, sozialdemokratisch geprägt. Fürth wirkt auf mich pulsierend und intakt – im Gegensatz zu manchen Vierteln in Berlin. Und es ist eine geschichtsträchtige Stadt: Die Dauerausstellung im LEZ beginnt mit einem Motor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert – mit der ersten deutschen Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth, dem legendären "Adler". Sie hat den ersten deutschen Wirtschaftsaufschwung zusammen mit dem Zollverein ganz wesentlich vorangetrieben und das Deutsche Reich verändert: Der Boom der Bahn machte es erforderlich, die lange gültigen fünf Zeitzonen innerhalb des Reichs abzuschaffen. Darmstadt hatte eine andere Zeit wie Königsberg, da war es sehr schwierig mit den Fahrplänen.

Erhard-Zentrum: Busse voller Chinesen und Japaner erwartet

© Alexander Jungkunz

War Erhard ein typischer Fürther?

Koerfer: Das wissen Sie besser als ich . . . Er war jedenfalls typisch für das liberal-freisinnige, kaisertreue Bürgertum. Das Kaiserreich blühte ja, als er 1897 geboren wurde. Prägend war ein autoritätsgläubiges Denken. Die Obrigkeit wurde nicht infrage gestellt. Dann kam der Erste Weltkrieg als Jahrhundertkatastrophe mit immensen Wohlstandsverlusten, in ganz Europa übrigens. Wie viele andere zog auch Erhard aus Patriotismus in den Krieg, obwohl er das wegen seiner leichten Gehbehinderung hätte vermeiden können. Damals war er noch gertenschlank, das Bild vom wohlbeleibten Erhard stammt erst aus der Wirtschaftswunderzeit.

Wie beurteilen Sie die teils heftige Diskussion ums LEZ in Fürth?

Koerfer: Ich bin da natürlich Partei. Man kann aber auch nicht erwarten, dass man von vornherein alle überzeugt; man muss sich anstrengen, um die Menschen zu gewinnen. Wir haben das LEZ auf drei Säulen gestellt: Erhard und Fürth plus Wirtschaftsgeschichte plus Zeitgeschichte. Im Altbau begegnen die Besucher Erhard in Fürth — da stehen er und die Zeit von 1900 bis zum Ende des Dritten Reiches im Mittelpunkt. 1945 machen wir die Zäsur – da geht es im Neubau weiter.

Ein Fürther auf Stippvisite in seiner Geburtsstadt: 1964 besuchte Erhard, damals Kanzler, Verwandtschaft. Viele Fürther begrüßten den Gast. An sein Wirken erinnert das demnächst eröffnende Ludwig-Erhard-Zentrum.

Ein Fürther auf Stippvisite in seiner Geburtsstadt: 1964 besuchte Erhard, damals Kanzler, Verwandtschaft. Viele Fürther begrüßten den Gast. An sein Wirken erinnert das demnächst eröffnende Ludwig-Erhard-Zentrum. © Knut Meyer

Eine Schwierigkeit gab es in beiden Gebäuden: Wir hatten viel für die Wände, aber zunächst nur wenige Exponate, die in den Raum gehen. Die Menschen wollen aber nicht nur Dokumente lesen. Deshalb haben wir uns viele spannende Inszenierungen überlegt und elektronische Highlights geschaffen, wie etwa den Raum zur Kanzlerzeit. Und wir haben seit 2014 überall nach Exponaten gesucht und dabei tatsächlich – das sind immer Glücksfälle – verblüffende Überraschungsfunde gemacht. Nur so viel: Ludwig Erhard ist auch einmal bei einer sehr wichtigen Prüfung durchgefallen. Das mag all jene trösten, denen das ebenfalls passiert ist.

Was sagen Sie zur Architektur des LEZ, die in Fürth sehr viele ablehnen?

Koerfer: Ich habe ein gewisses Verständnis für diejenigen, die sich ums Stadtbild sorgen. Der Neubau mag auf den ersten Blick gegenüber den Fachwerkhäusern als Fremdkörper wirken, an den man sich gewöhnen muss. Aber mein Großvater war Architekt, und der sagte immer: Man muss auch den Mut haben, etwas Neues zu wagen. Und das tut es.

Das auf jeden Fall ...

Koerfer: Mein Vorschlag wäre ja – ich weiß nicht, ob das so kommt –, dass man die Außenfassaden nachts beleuchtet, etwa mit einem Erhard-Porträt, damit die Menschen nicht nur auf eine kahle Wand schauen. Damit diese Wand noch etwas stärker "lebt".

An wen richtet sich das LEZ?

Koerfer: Die Fachleute rechnen damit, dass es international gut angenommen wird. Offenbar sind die Chinesen dabei, Karl Marx und Ludwig Erhard als spannende Pole zu entdecken. Marx haben sie wegen seines 200. Geburtstags 2018 ohnehin auf dem Schirm, insbesondere seine Geburtsstadt Trier. Und jetzt kommt Ludwig Erhard in Fürth dazu.

Im Ernst? Sie erwarten Besucher aus China?

Koerfer: Ja, die Fachleute rechnen mit Bussen voller Chinesen und Japaner. Nicht zuletzt deshalb sind alle unsere Texte deutsch und englisch formuliert – eine gewaltige Herausforderung, weil der zur Verfügung stehende Platz sich halbiert. Aber die Chinesen sind tatsächlich sehr an Deutschland interessiert. Sie haben im Wirtschaftsministerium allein 3000 Experten, die sich nur mit Deutschland beschäftigen. Bei uns sind es übrigens ganze drei. Das LEZ richtet sich zu einem Gutteil an ausländische Besucher. Und auch an junge Leute. Warum? Weil sie von wirtschaftlichen Zusammenhängen oft keine Ahnung haben. Da wollen wir Fakten und Kenntnisse vermitteln: Wie hoch, zum Beispiel, ist der Bundeszuschuss für die Rentenkasse? Das müssen eigentlich alle im Land wissen für politische Debatten – es sind fast 100 Milliarden. Die Besucher sollen ganz handfest solche Informationen bekommen.

Wissen Chinesen da vielleicht mehr über Erhard als die Deutschen?

Koerfer: Das ist fast zu befürchten. Bei uns ist Erhard eine entrückte Ikone. Inzwischen sind ja alle für die soziale Marktwirtschaft – von Sarah Wagenknecht bis wahrscheinlich auch Alexander Gauland. Aber den Begriff zu füllen, die Konzeption richtig zu erklären, vermag kaum einer. Wir haben daher versucht, Erhard fortzuschreiben: Das Museum endet in einem Zukunftsraum, der wegen seiner Verspiegelung riesig wirkt, ganz futuristisch.

Dort finden wir die Vision, die von Erhard bleibt?

Koerfer: Nein, dort findet der Besucher kleine Hinweise, wie man die Zukunft und die großen Fragen und Herausforderungen von der Globalisierung bis zur Digitalisierung in seinem Sinne gestalten könnte. Alle am Projekt Beteiligten glauben, dass Erhards Botschaft der Freiheit und Verantwortung — des Einzelnen wie des Staates übrigens – keineswegs verstaubt und antiquiert ist, im Gegenteil. Aber Erhards Konzept hat heute einen "medialen Makel": Er segelt unter einer Flagge, die mit einem Schimmelpilz behaftet ist – das ihm angeklebte Etikett heißt "Neoliberalismus" und ist medial genauso vergiftet wie sein Begleitwort "marktradikal". Ziemlich absurde Kampfbegriffe, aber medial erfolgreich. Haben Sie schon einmal einen "radikalen Wochenmarkt" besucht und "radikale" Eier gekauft? Ich nicht. Der ökonomische Liberalismus und seine Weiterentwicklung in der sozialen Marktwirtschaft haben diese stigmatisierenden Etikettierungen jedenfalls nicht verdient. Sie sind weder regelfrei noch entfesselt. Es geht durchaus um Regelsetzung und Einhegung — aber es geht zugleich auch um Freiheit. Der Begriff ist bei uns aber stark aus der Mode gekommen. Wir alle werden ja immer enger eingebaut von Regeln und Vorschriften.

Wäre Erhard heute Mitglied in der Union, bei CDU oder CSU?

Koerfer: Unmöglich. Er war ja eigentlich schon damals totaler Außenseiter, er war auch nie Parteimitglied.

Viele sagen: Erhard war eigentlich kein Politiker . . .

Koerfer: Er war jedenfalls ein besonderer Typ von Politiker. Johannes Gross hat, auf ihn gemünzt, gesagt: "Politik verdirbt den Charakter. Aber zu viel Charakter verdirbt auch die Politik." Da ist was dran. Erhard war aber nicht so naiv, wie ihn manche darstellen. Seine Anfangsphase war unglaublich brutal. 1947/48 war die Lage furchtbar, viele hungerten und wollten arbeiten. Und hatten eine Währung, die nichts wert war.

Zunächst war Erhard ja alles andere als populär . . .

Koerfer: Was viele vergessen haben, es gab im November 1948 den einzigen Generalstreik in Westdeutschland — gegen Erhards Reformen! Er war bei der Währungsreform nicht wichtig, da setzen wir ihm im LEZ auch keinen falschen Heiligenschein auf. Regie führten die Amerikaner, die schon 1943/44 Geldscheine für die D-Mark hatten drucken lassen. Wir haben eine Kiste davon in der Ausstellung. Die Währungsreform ist der eine Teil der wegweisenden Doppelreform vom Sommer 1948, an ihr ist Erhards Anteil minimal. Der andere Teil ist die Wirtschaftsreform: Da beschließt Ludwig Erhard, dieser Verrückte, unterstützt von einigen wenigen Verbündeten, mitten unter Tausenden Beamten seiner Frankfurter Wirtschaftsverwaltung: Weg mit der praktizierten Planwirtschaft und dem Schwarzmarkt, weg mit den Bezugsscheinen und staatlichen Preisfestsetzungen.

Plötzlich war der Markt frei, herrschte Wettbewerb. Die Folge: Die Läden sind voll, die Nachfrage ist riesig, aber die meisten Menschen können nur wenig kaufen. Die Preise steigen, die Leute haben kein Geld, weil die Löhne nicht entsprechend schnell steigen. Da kommt es zum Generalstreik. Mit Transparenten, auf denen steht: "Erhard an den Galgen". Es stand Spitz auf Knopf. Selbst in der Wirtschaftsverwaltung in Frankfurt zweifelten viele am Verrückten aus Fürth und dachten: Das geht schief. Aber da war er knallhart, zeigte Riesen-Mut, knickte nicht ein – er war schon ein besonderer Politiker.

Dann kam der Korea-Boom im Gefolge des Korea-Kriegs . . .

Koerfer: Ja, das war die zweite Krise. Da hatte Erhard dann auch Fortune – die Märkte in der Welt switchten um auf Rüstung, das öffnete den Markt für deutsche Waren – Kühlschränke etc. –, der Boom begann, das Wirtschaftswunder nahm Fahrt auf.

Und dann wurde Erhard die Wahlkampflokomotive für Adenauer?

Koerfer: Ja, für die Union und Adenauer. Zunächst war er der mit Abstand unbeliebteste deutsche Politiker. 1948 votierten in Umfragen nur 14 Prozent für, aber 86 Prozent gegen ihn. Bei solchen Zahlen können Sie sich eigentlich erschießen. Im Wahlkampf 1949 ist er populärer, aber dann geht es wieder runter, denn da waren Millionen Vertriebene und Kriegsheimkehrer zu integrieren, die Arbeitslosigkeit stieg – bis zum Korea-Boom. Anschließend wird er zum populärsten aller Minister der Bundesrepublik mit Zustimmung von über 85 Prozent. Ziemlich einmalig für einen aktiven Politiker in einer Demokratie.

Wie würden Sie Erhards Kernbotschaft formulieren?

Koerfer: Der Staat muss sich zurücknehmen – er ist wichtiger Begleiter und Rahmensetzer. Aber er darf nie die Hauptrolle spielen wollen. Es ist ein unternehmerfreundlicher Staat, der den belohnt und fördert, der etwas unternimmt. Der im Zusammenwirken mit seinen Mitarbeitern die Basis für alles schafft, was umverteilt wird, um jenen zu helfen, die unverschuldet in Not geraten sind. Erhard war auch gegen Neid-Debatten, er schrieb schon 1956/57: Ich hoffe, die deutsche Neid-Debatte ist endlich vorbei. Aber sie ist bis heute nicht vorbei.

Wir brauchen ein Umdenken: Wir wollen die stärken, die etwas tun. Der Staat blähte sich massiv auf. Die Steuereinnahmen wachsen seit Jahren stärker als das Bruttosozialprodukt. Zugleich haben wir einen Sozialstaat, der sehr groß und teuer wurde. Etwa ein Drittel unseres Sozialprodukts, rund 900 Milliarden, schlagen wir im Sozialbereich um. Das wollen wir zeigen. Denn wir können nicht unbegrenzt so weitermachen.

Setzen Sie denn auf eine Art Erhard-Revival?

Koerfer: Wir unternehmen zumindest den Versuch, einen kleinen Leuchtturm in einer einsamen Sandwüste aufscheinen zu lassen. Das Problem: Unser Christus hat eigentlich keine Jünger mehr. Ludwig Erhards Anhänger sind alle vom Stamm der letzten Mohikaner – und denen steckt oft schon das Messer im Rücken.

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