Erlanger über England: "Es war die totale Angst"

4.7.2018, 18:00 Uhr
Pure Freude: England steht im WM-Viertelfinale. Torwart Jordan Pickford (Mitte) jubelt mit seinen Teamkollegen.

© Victor R. Caivano Pure Freude: England steht im WM-Viertelfinale. Torwart Jordan Pickford (Mitte) jubelt mit seinen Teamkollegen.

Herr Turner, ich habe gehört, Sie befinden sich gerade im Urlaub auf einem Segelschiff. Drohte das am vergangenen Dienstagabend zu sinken?

Nein, zum Glück nicht. Wir haben das Spiel in einer Bar in Palma di Mallorca angesehen. Um uns herum waren nur Kolumbianer und auch die Mehrheit der Einheimischen hat die Daumen für den Gegner gedrückt.

Sie waren der einzige Engländer?

Ein Freund und ich, ja. Meine deutsche Freundin und ein dänisch-spanischer Freund haben zu England gehalten, sie hatten da keine andere Wahl. Ich glaube, sie hatten Mitleid – völlig übertrieben!

Was ging Ihnen durch den Kopf, als das Elfmeterschießen begann?

Es war die totale Angst. Das war das Letzte, was ich wollte: das gefürchtete Elfmeterschießen.

Erlanger über England:

© Foto: Turner

. . . weil England darin gefühlt noch nie erfolgreich war?

Aufgrund der Geschichte, klar. Wir hatten das dreimal bei einer WM, dreimal haben wir verloren. Meine erste WM, als England 1990 in Turin Deutschland im Elfmeterschießen unterlag, hat mich gut auf die nächsten Jahre des Schmerzes vorbereitet.

. . . die es auch bei Europameisterschaften gab. Ich erinnere da an 1996.

Ja, in Wembley gegen Deutschland – wir sind wie gesagt Experten darin, Elfmeterschießen zu verlieren. Andy Möllers Jubel verfolgt mich seitdem über Jahre, ich hoffe, er hat unseren Sieg Dienstagabend genossen.

Warum in aller Welt konnte England einfach kein Elfmeterschießen?

Diese Frage stellten wir uns 30 Jahre lang. Wir haben da einen Minderwertigkeitskomplex geschaffen. In den 80er Jahren war der englische Fußball voller Kraft, Schnelligkeit, gespielt von starken Männern in kurzen Hosen: solide Tacklings, Schnurrbärte und schlechte Haarschnitte, war das Motto, hart sein, rau spielen. Die Kontinentaleuropäer waren zwar langsamer, aber technischer mit mehr Ballbesitz. Sie waren also ruhiger, wenn es um diese intensiven Momente ging. Wir kamen über die Leidenschaft und konnten mit dem Druck nicht umgehen.

Als am Dienstag Henderson verschoss, fühlten Sie sich nur bestätigt?

Ja. Um es noch schlimmer zu machen: Er spielt ja für Liverpool, ich bin Manchester-United-Fan. Es war also noch ein bisschen frustrierender. Ich war geschockt, es fühlte sich so an, als würde sich die Geschichte schon wieder wiederholen.

Und jetzt ist dieser Knoten geplatzt, der Fluch beendet – so etwas wie die letzte Bestätigung, dass England es wirklich schaffen kann, 2018 bis ins Finale einzuziehen und sogar das Turnier zu gewinnen?

Es fühlt sich zunächst einmal toll an, gewonnen zu haben; ein Elfmeterschießen sogar noch einmal umgedreht zu haben, unglaublich. Ich fühlte mich nervöser als in jedem Spiel seit 1996 gegen Deutschland. Ich sah das Spiel durch die Finger entgleiten – und tanzte wenig später doch noch wie ein Verrückter durch die Bar.

Erzeugt diese Euphorie nicht nur wieder Druck?

Ich denke, die Jungs müssen jetzt demütig bleiben, keine Zeitungen lesen, keine Nachrichten anschauen. Wir sind glücklich, das Elfmeterschießen gewonnen zu haben. Alles was wir jetzt noch erreichen, ist ein Bonus. Das muss die Einstellung sein.

 

Verwandte Themen


1 Kommentar