«Man muss damit rechnen“

22.11.2006, 00:00 Uhr
«Man muss damit rechnen“

Sind Sie nach dem warnenden Medienworkshop vergangene Woche überrascht, oder haben Sie irgendwann mit einem solchen Vorfall gerechnet?

Schiffer: Man musste und muss auch weiterhin mit derlei Ausrastern rechnen, die sich darum so erschreckend auswirken, weil inzwischen eine breite Schicht Jugendlicher fast täglich an PC und Spielekonsolen Techniken des Tötens eintrainieren. Wie es der Aussteiger und Fachmann Michael Wallies in seinem Vortrag im Workshop beschrieben hat, befördern «Spiele“ wie Counterstrike & Co. nicht nur die Nervosität, sondern auch den weiteren Rückzug von sich bereits schwach fühlenden Jungs. Diese Schwächegefühle kompensieren sie dann mit Ersatzerfolgen am Bildschirm, wo sie aber nicht Aggressionen ab-, sondern erst aufbauen, wie Wallies aus eigener Erfahrung schildern konnte. Diese Spiele sind Abfallprodukte vom Militär. Sie wurden entwickelt, um die natürliche Tötungshemmung angehender Soldaten zu reduzieren. Und sie sind erfolgreich.

Was hat sich denn in unserer Gesellschaft verändert, dass Ereignisse, die man bisher nur aus den USA kannte, auch bei uns möglich geworden sind?

Schiffer: Insgesamt kann man feststellen, dass viele Entwicklungen in den USA zeitverzögert auch bei uns eintreten. Mit steigendem Konsum elektronischer Medien dort ging auch eine Steigerung des Konsums gewalthaltiger Inhalte einher. Dabei nehmen persönliche Bindungen, also das was stützt, ab. Hinzu kommt ein gestiegener Leistungsdruck bei schlechter werdenden Bedingungen. Jugendliche bekommen täglich die Botschaft, dass sie eigentlich nicht gebraucht werden, es keine Lehrstellen für sie gibt. Dass sich etwas lohnt, diese Erfahrung machen viele, und vor allem junge Menschen, immer weniger. Und hier sehe ich auch eine Verbindung zum frühen Konsum elektronischer Medien. Der Knopfdruck verführt zum schnellen Umschalten, wenn’s mal schwierig wird. Die Erfahrung bei der Einführung von Computertechnik in den Schulen bestätigt: Es wird schneller im Internet gesurft als mit zehn Fingern schreiben gelernt.

Kriminalpsychologen warnen vor der Vorstellung, man könne durch Verbote von Waffen oder gewaltverherrlichenden Computerspielen vorbeugen. Sie sind offenbar anderer Auffassung?

Schiffer: Ja, ganz entschieden! Und es kommt ja immer darauf an, wen man fragt. Etwa Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachen konnte in einer breit angelegten Studie den Zusammenhang zwischen Gewaltkonsum und steigernder Aggressivität bis hin zur Straffälligkeit nachweisen. Wir können nicht warten, bis wir einen einzigen Faktor gefunden haben, der für alles verantwortlich sein soll. Den wird es nie geben. Und das würde bedeuten, wir lassen alles so weiter laufen. Ganz so wie Microsoft & Co. es sich wünschen. Übrigens gilt auch unter Medienwissenschaftlern inzwischen die so genannte «Katharsisthese“ als widerlegt — also die Vorstellung, dass man sich mit derlei Tätigkeiten abreagieren könne. Der Militärpsychologe Dave Grossman bringt die Brisanz auf den Punkt: Wenn Wille, Fähigkeit und Gelegenheit zusammenkommen, dann wird’s gefährlich. Hier tickt eine Zeitbombe, auf deren endgültigen und von allen akzeptierten empirischen Beweis wir nicht

warten sollten.

Bei einem Praxisnachmittag zum Abschluss des Workshops sollten vor allem Pädagogen mit dem Thema Gewalt in den Medien konfrontiert werden. Haben Sie den Eindruck, dass das Thema ernst genommen wird, dass es auch in den Schulalltag einzieht?

Schiffer: Es haben leider keine Pädagogen teilgenommen, aber das Thema wurde in den beiden Abendveranstaltungen ausgiebig behandelt. Da haben die Pädagogen das Thema durchaus ernst genommen, nur bei den Lösungsmöglichkeiten scheinen mir viele einer anderen Kampagne aufzusitzen: nicht der frühe Medieneinsatz fördert die Kritikfähigkeit der Kinder, sondern Medienpädagogik entpuppt sich hier sehr oft als Einstiegsdroge. Hier fehlt nämlich ein Konzept und eine Entscheidung über die Inhalte, die wichtig sind. Wir brauchen einen Lehrplan Medienbildung, der die Wahrnehmungsfähigkeiten der Kinder ebenso in Betracht zieht wie die Fragen der Gesellschaft, die wir wollen. Die Pädagogen lässt man derzeit ebenso im Stich wie Eltern und Kinder.

Haben Sie darüber hinaus Vorstellungen oder gar Vorschläge, wie mit dem Thema Gewalt umgegangen werden sollte? Helfen Gesetze, wie Waffenverbote oder Herstellungsverbote für Gewaltspiele und -videos?

Schiffer: Man weiß, dass der leichte Zugang zu Waffen etwa in den USA eben auch mehr Gelegenheit zum Gebrauch bietet. Insofern würde ich mich nicht wohl fühlen bei dem Gedanken, dass mein Nachbar mit einer Waffe herumläuft, um sich zu «schützen“. Dass Tötungstrainingssoftware in Form von Ego-Shootern und auch Strategiespielen weltweit auf dem Markt als «Spiele“ erhältlich sind, ist perfide und unverantwortlich. Ebenso wenig kann ich akzeptieren, dass Gewalt — in welcher Form auch immer — überproportional als Lösungsmöglichkeit und Zeitvertreib angeboten wird. Da liegt eine falsche Gewichtung vor und Menschen lernen ja nun mal am Modell.

Interview: PETER MILLIAN