Extreme Ekstase beim Vibraphonissimo-Festival

14.1.2019, 12:00 Uhr
Extreme Ekstase beim Vibraphonissimo-Festival

Sanft, lyrisch, beinahe träumerisch beginnen die Kompositionen Richie Beirachs. Es sind die langsamen Stücke, die dem kleinen, kurzarmig wirkenden Weltklasse-Pianisten aus Brooklyn mit dem großen Herzen den Freiraum lassen, den jeder Jazz-Musiker wie die Luft zum Atmen braucht. Nur ab und an fällt der Blick auf die Partitur, damit man das große Ganze nicht aus den Augen verliert und die Einsätze für die Soli nicht verpasst. Wo die Noten enden, beginnt er: der Jazz mit seinen Improvisationen, den wunderbaren Umwegen, die von der Hauptstraße abbiegen, sich in der Gegend umsehen, dabei viel Neues entdecken und zuletzt wieder auf die stark befahrene Strecke zurückfinden.

Aus diesen imaginären Ausflügen heraus, die oft hinter geschlossenen Augen vor sich gehen, entwickelt die 71-jährige Tastenlegende komplexe Klangstrukturen, die dennoch übersichtlich erscheinen und das Innere der Zuhörer tief berühren. Irgendwo zwischen Bill Evans und Brad Mehldau . . . Wie die Meditation, die sich "Zal" nennt und damit das polnische Wort für "Seele" meint. Sie wirkt wie gerade eben erst ausgedacht, obwohl sie das nicht ist.

Oder wie "Riddles", das ebenso rätselhaft bleibt wie die Frage, warum im Kulturkeller so gar kein bekanntes Gesicht aus der regionalen Musikszene zu sehen war.

Extreme Ekstase beim Vibraphonissimo-Festival

© Fotos: Udo Güldner

Nach Erlangen oder Nürnberg hätte man jedenfalls nicht gemusst, um ein großstädtisches Konzertereignis zu erleben. Die Kompositionen verraten Beirachs Begeisterung für die musikalische Moderne, für Béla Bartók, Igor Strawinsky oder Arnold Schönberg. Für deren waghalsige Experimente, die einer gewissen mathematischen Ordnung folgen. Für melodische Meisterschaft, die auf virtuose Effekte verzichten kann.

Namensgeber ist jedoch Tobias Frohnhöfer aus Ludwigshafen, der mit seinen gerade einmal 28 Jahren der Enkel Beirachs sein könnte. Ihm liegt der Free Jazz, den die fünf Musiker mit Elementen aus Rock, Swing, Latin und Rhythm & Blues vermengen, bis daraus eine Melange wird, die aus jeder stilistischen Schublade springt, in die man sie zu zwängen versucht. Irgendwie ätherisch, aber auch energiegeladen, dabei schwingend wie das "Pendulum", wie eine der Beirach-Tonfolgen heißt. Ungestüm kann er sein, freilich ohne die Kontrolle zu verlieren. Und ungemein vielseitig auf dem Instrument, das Festival-Mitorganisator Professor Radek Szarek auf die Bühne gestellt hat.

Hinter dem Mann mit den vier Schlegeln, die die Metallplättchen des Vibraphons streicheln, auf ihnen wild herumtanzen oder sie gleichsam schmieden können, steht Veit Hübner. Gelehnt an seinen Kontrabass, zeigt er einem naseweisen "Pinocchio", den der Saxophonist Wayne Shorter einst aus seinem Holzblasinstrument hatte entsteigen lassen, was eine Synkope ist. Die aus Russland stammende Regina Litvinova steuert am Synthesizer Klangfetzen bei, die mal außerirdisch, dann wieder sehr psychedelisch, zuletzt gar seltsam vertraut daherkommen. Als der Jazz aus dem Musikern heraus, um die Instrumente herum, durch die Zuhörer hindurch fließt, entfährt selbst Richie Beirach ein "That’s it!" Das ist es in der Tat. Ein phänomenales Erlebnis, das man mehr Menschen gewünscht hätte.

Hinter seinen riesigen Becken ist Christian Scheuber nicht zu sehen. Aber zu hören ist der Schlagzeuger, der sich nicht zu verstecken braucht. Er ist die rhythmisch treibende Kraft, die seine Kollegen ins Schwitzen und die Zuhörer ins Schwärmen bringt.

Solch perkussive Explosionen, solch packende Melodiosität, solch inspirierende Vielfalt hat man selten erlebt. Ein Dramatiker am Drumset, der auch exotischen Rhythmen mit Bambusbüscheln so lange zu Leibe rückt, bis diese ihre Trance-Qualitäten entfalten. Da nimmt es nicht wunder, dass manch einer im Publikum sein Glück nicht fassen kann und in ein jubelndes Jauchzen ausbricht. Ach hätte doch jedes Musikfestival einen solchen Auftakt. Im nächsten Jahr soll Forchheim bei der Vibraphonissimo-Konzertreihe wieder dabei sein. Welch Glück.

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