Trotz schwerer Hörschädigung schafft Andreas das Abitur

29.7.2014, 06:01 Uhr
Trotz schwerer Hörschädigung schafft Andreas das Abitur

© Ralf Rödel

Wenn die Hörgeräte nicht wären, man würde Andreas Bielz seine Behinderung nicht anmerken. Doch sie ist da. „Wenn ich den Wasserhahn auf volle Pulle aufdrehe, dann höre ich es ganz leise“, erklärt der Heroldsbacher. Die beiden Hörgeräte laufen am Limit, wenn sich seine Ohren weiter verschlechtern würden, kämen keine Geräusche mehr bei ihm an.

Als bei ihrem dritten Kind im Kleinkindalter die Hörschädigung diagnostiziert wurde, war das für die Eltern Gerhard und Anke ein Schock — vor allem wegen der negativen Prognosen der Ärzte. Doch sie kämpften für ihren Sohn. Durch intensive Förderung lernte der Junge sprechen.

„Es war für ihn, als ob ein Ausländer deutsch lernt“, erinnert sich Mutter Anke. Aussprache, Wortschatz, Grammatik — was andere Kinder im täglichen Umgang einfach so mitnehmen, musste sich Andreas mühsam aneignen. „Am Anfang hat er nicht geschnitten, sondern geschert und er hat nicht gekehrt, sondern gebest“, erzählt sie. Aufgrund der Frühförderung kam Andreas in einen normalen Kindergarten – und sollte, auf Wunsch der Eltern, auch auf eine normale Grundschule gehen. Doch das war alles andere als selbstverständlich. Denn die Vorurteile an der Heroldsbacher Schule waren groß. Die Lehrer fragten sich, ob sie sowohl dem Hörgeschädigten als auch allen anderen Kindern in der Klasse gerecht werden können.

In den NN schilderten Anke Bielz und Lehrerin Uta Weigelt damals den Schulbeginn von Andreas. Damit er Lehrer und Mitschüler besser verstehen konnte, brauchte er von Anfang an eine spezielle Mikrofon-Anlage, die sich die Klassenlehrerin – und später auch alle anderen Lehrer – um den Hals hängen musste. Das Mikrofon war verknüpft mit Andreas Hörgeräten. Damit hörte der Schüler die Stimmen viel lauter als alle anderen.

Stuhlkippeln wie Rockmusik

„Viele denken, der Junge hat ein Hörgerät, das muss reichen. Das tut es aber nicht. Hörgeräte machen ihn nicht zum Hörenden“, sagt Uwe Lehmann. Der Lehrer ist Leiter des mobilen sonderpädagogischen Dienstes der Von-Lerchenfeld-Schule für Hörbehinderte in Bamberg. Als solcher betreut er hörgeschädigte Schüler, die eine normale Schule besuchen und berät die Lehrer. Er bietet den Pädagogen auch an, einmal selbst ein Hörgerät auszuprobieren. Die Reaktionen reichen von Überraschung bis zum Schock. „Ein leichtes Stuhlkippeln wirkt dann, als ob man bei einem Festival neben dem Lautsprecher steht“, erklärt Andreas Bielz.

Deshalb seien weitere akustische Verbesserungen extrem wichtig. Bei seinem Wechsel auf das Ehrenbürg Gymnasium — den er schaffte, obwohl Ärzte und Lehrer das anfangs für unmöglich hielten — wurde das mehr als deutlich: „Andreas kam in die Klasse mit der schlechtesten Akustik in der ganzen Schule, ja ich würde sogar behaupten, in ganz Oberfranken“, erinnert sich Förderlehrer Uwe Lehmann. Nach langem Kampf gelang es ihm und den Eltern, dass die Klasse in den Raum mit einer wesentlich besseren Akustik wechseln konnte – und Andreas bis zum Abitur dort unterrichtet wurde.

„Obwohl es manchmal schwer war, die Schule hat versucht, uns entgegen zu kommen“, erklärt Anke Bielz. Alle Schüler aus Heroldsbach kamen in die gleiche Klasse. Das war nicht selbstverständlich, aber wichtig, weil Andreas sich auf die verschiedenen Stimmen schon eingestellt hatte.

Im Laufe der Schullaufbahn ihres Sohnes hat Mutter Anke viel gelernt. Zum einen, dass man nicht immer nur fordern darf, sondern sich auf das Wesentlichste konzentrieren und dabei motivierend auf die Lehrer eingehen muss. „Wir haben ein Problem, aber ich bin mir sicher, dass Sie das lösen können.“ Diesen Satz habe sie häufig verwendet. Zum anderen hat sie im Laufe der Jahre gelernt, sich zurückzunehmen und es ihrem Sohn zu überlassen, Dinge zu regeln.

Einzelunterricht zur Förderung

Also erklärte Andreas neuen Lehrern selbst, warum sie dieses Mikrofon um den Hals tragen müssen und dass es gut wäre, wenn sie wichtige Sätze wiederholen. Und er organisierte sich seine Förderstunden, die ihm wegen seiner Hörschädigung zustanden. Zweimal pro Woche erhielt er Einzelunterricht in Deutsch und Englisch – und kam hierbei in näheren Kontakt zu Rolf Dreyer.

Der Kollegstufenkoordinator und Englischlehrer sei eine der wichtigsten Personen in seiner Schullaufbahn gewesen, sagt der 18-Jährige. Es sei wichtig, dass sich jemand für einen „besonderen“ Schüler wie Andreas verantwortlich fühle, meint seine Mutter. Dieser Nachhilfe und dem engen Kontakt zu Rolf Dreyer schreibt es Andreas auch zu, dass er bei seiner Abiprüfung im Fach Englisch eine zwei plus erreichte. Insgesamt legte er sein Abitur mit der Note 1,8 ab. Es war mehr, als jeder Arzt und jeder Lehrer ihm jemals zugetraut hätte. Andreas will darauf aufbauen und an der Uni Erlangen ein Studium beginnen. „Vielleicht Elektrotechnik.“

Bei ihm hat es geklappt — mit der Schule überhaupt, und mit dem Gymnasium im Besonderen. „Weil die Eltern ihn gefördert und unterstützt haben, weil er den Willen und die Kraft hatte, sich durchzubeißen und weil er eine enorme Sprachintelligenz hat“, sagt Förderlehrer Uwe Lehmann. Denn trotz seiner Hörgeräte kommen bei ihm nur Bruchstücke an. „Er muss daraus ein sinnvolles Ganzes herstellen und Andreas verfügt über die Fähigkeit, das nebenbei zu machen.“

Dieser Erfolg lasse sich nicht einfach auf andere mit der gleichen Behinderung übertragen. Und: „Das Schulsystem als Ganzes kann sich dabei nicht auf die Schulter klopfen“, so Lehmann. Denn der Umgang mit behinderten Schülern sei trotz des Inklusionsgedankens noch lange nicht selbstverständlich. Und die Schulen seien immer noch zu schlecht ausgestattet — sowohl finanziell als auch technisch und personell. Ein „Inklusionsbeauftragter“ gehöre seiner Meinung nach zum Beispiel fest an jede Schule.

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