Als Bote zwischen Straßenkämpfen und Barrikaden

16.6.2016, 16:00 Uhr
Als Bote zwischen Straßenkämpfen und Barrikaden

© Fotos: Söllner

Es ist der 1. August 1944 in Warschau. Der bewaffnete Aufstand gegen Nazideutschland hat begonnen. Blutige Straßenkämpfe und Barrikaden bestimmen das Geschehen. Mittendrin: ein 15-jähriger Junge. Jederzeit kann es wieder brenzlig werden – dann muss er sich innerhalb von Sekunden flach auf den Boden legen, um zu überleben.

Als Bote zwischen Straßenkämpfen und Barrikaden

Trotzdem macht er weiter, denn als Meldegänger versorgt er die einzelnen Orte des Widerstandes mit aktuellen Lageinformationen. Eine unverzichtbare Aufgabe im wie ein Mosaik zersplitterten Warschau: Gebiete unter Kontrolle der Aufständischen wechseln sich mit solchen ab, in denen SS-Einheiten die Stellung halten.

Zeitsprung: Heute ist der Junge 87 Jahre alt. Herzy Grzywacz erzählt am Helene-Lange-Gymnasium vom Warschauer Aufstand, der übrigens nicht mit dem Aufbegehren in dem jüdischen Ghetto ein Jahr zuvor verwechselt werden darf. Es war die Idee der Fürther Europa-Union, den Zeitzeugen erstmals an eine hiesige Schule zu holen.

Seine Zuhörer aus den neunten und zehnten Klassen sind jetzt in etwa so alt wie er damals. Während Grzywacz redet, könnte man in der Schulaula eine Stecknadel fallen hören. Kein Wunder, immerhin erfahren die Schüler aus erster Hand, was es mit der Widerstandsaktion auf sich hatte.

1939, also fünf Jahr zuvor, marschierten deutsche Truppen in Polen ein. Gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt teilten Nationalsozialisten und Sowjets das Land unter sich auf. Warschau wurde von den Nazis besetzt. Die Folgen: Judenghettoisierung, Zwangsarbeiterdeportationen und rund 2,7 Millionen getötete polnische Staatsbürger mit jüdischer Abstammung — durch den industriellen Massenmord des Holocausts.

Unterdrückte Bildung

Außerdem taten die Besatzer alles dafür, den polnischen Jugendlichen so viel Bildung wie möglich zu verwehren. „Sie wollten brave und gehorsame Untertanen“, sagt Grzywacz. Bloß lesen sollten die Menschen möglichst nicht können. Deshalb wurde die Schulzeit auf vier Jahre begrenzt.

Ein wichtiges Ziel der Zawisza — eine Art Widerstandsgruppe für Jugendliche im Alter von 12 bis 15 Jahren — war es dementsprechend, Bildungslücken zu füllen und Aufklärungsarbeit zu betreiben. Auch Grzywacz war in der Zawisza aktiv: „Wir haben gegen die Deutschen mit Worten gekämpft, nicht mit Waffen!“

Das galt freilich nicht für den gesamten Widerstand. Graue Reihen (Szare Szeregi) war der Name einer Pfadfinderbewegung, die neben der Zawisza weitere, teils bewaffnete Gruppen vereinte. Ihre bewusst verwendete Abkürzung, um die Nazis zu verwirren? Richtig: SS.

Gegen die Deutschen kämpfte auch die Heimatarmee (Armia Krajowa, AK). General Tadeusz Komorowski war es gelungen, verschiedene Akteure zum „größten Widerstandsheer im besetzten Europa“ zusammenzuschließen. Laut Grzywacz trugen rund 380 000 Soldaten fortan die durch einen Anker symbolisierte Parole „Kämpfendes Polen“ (Polska Walczaca, PW) auf ihren Armbinden.

Der Aufstand beginnt

Um Punkt 17 Uhr am Monatsersten des August 1944 war es dann so weit: Graue Reihen und Heimatarmee riefen gemeinsam zum Warschauer Aufstand auf. Eingebettet war dieser in die landesweite Operation Gewitter. Der Zeitpunkt wurde bewusst gewählt, die Rote Armee der Sowjets war nah an Warschau herangerückt. Gleichzeitig gab es Anzeichen, die auf einen deutschen Rückzug hindeuteten. Insgesamt erschien diese Konstellation günstig, um einen selbstständigen Befreiungsversuch zu wagen. Denn die Angst, im Anschluss an den Nationalsozialismus unter russische Fremdherrschaft zu geraten, war groß. Grzywacz: „Wir hatten damals zwei Feinde!“

Was dann folgte, war ein 63 Tage anhaltender, „sehr, sehr, sehr schrecklicher Kampf“. Rund 200 000 Menschen mussten ihn mit ihrem Leben bezahlen. Überwiegend traf es Zivilisten — auch, weil die SS-Einheiten unter Leitung von Gruppenführer Heinz Reinefarth besonders brutal agierten: Egal ob Frauen, Kinder oder Alte, es wurde wahllos gemordet. Trotzdem konnte Reinefarth ab 1951 zunächst Bürgermeister von Sylt, später sogar Landtagsabgeordneter von Schleswig-Holstein werden.

Noch heute ein Thema

Vor dem Hintergrund der hohen Opferzahlen sowie der Tatsache, dass die Nazis am Ende den Kampf für sich entscheiden konnten, wird in der polnischen Gesellschaft bis heute über die Widerstandsaktion gestritten. War es die richtige Entscheidung, den Aufstand gegen die Nazis zu wagen? Für Grzywacz sind solche Debatten „ahistorisch“. Schließlich hätte zum damaligen Zeitpunkt ja niemand wissen können, dass die Rote Armee dem Gemetzel größtenteils tatenlos zusehen würde. In der Tat hofften nicht wenige Warschauer, dass die Sowjets eingreifen würden.

So oder so steht für ihn fest, dass neben den Aufständischen auch die Deutschen ihr ursprüngliches Ziel verfehlt haben: Was als rasche Beendigung des Aufstandes geplant war, entpuppte sich letztendlich als ein neunwöchiges Unterfangen.

Bleibt die Frage nach der gegenwärtigen Relevanz der Ereignisse. Wladimir Putins aggressive Politik bewertet Grzywacz als „sehr schlecht“. „Wir in Polen haben Angst vor den Russen“, sagt er und fügt hinzu: „Das müsst ihr verstehen!“

Dagegen lenkt die Geschichtslehrerin Miriam Montag-Erlwein den Blick auf ein anderes aktuelles Phänomen: dem Wiedererstarken nationaler Kräfte rund 70 Jahre nach Kriegsende. In diesem Kontext ruft sie ins Gedächtnis, dass die Europäische Union auch deshalb gegründet worden sei, um nach all den schrecklichen Auseinandersetzungen „nationalen Egoismen vorzubeugen“.

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