Aschenputtels Schwester

27.8.2013, 14:00 Uhr
Aschenputtels Schwester

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„Ach, Sie sind ja vollkommen verrückt. Wer bitte, sagt denn sowas. Ich? Neidisch? Niemals! Noch nie, also zu keiner Zeit in meinem Leben, war ich neidisch auf irgendjemanden oder irgendetwas. Doch, doch, das können Sie mir ruhig glauben. Neid entspricht so gar nicht meinem Naturell. Ich war schon immer sehr bescheiden und fromm.

Das war bestimmt meine kleine, garstige Schwester, die Ihnen diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Ist ja typisch. Ich weiß, auf meine Schönheit, meine Anmut und meine Bescheidenheit kann man neidisch sein, das kann ich verstehen. Sie kam ja erst sehr spät in unsere Familie. Erst kürzlich kann man sagen. Aber meine große Schwester und ich haben sie sofort in unser Herz geschlossen. Und unsere Mutter war schon immer eine so liebevolle Frau, herzensgut, hätte alles für uns Töchter getan. Hat uns geliebt und umsorgt, uns angetrieben und ihre Weitsicht an uns weitergegeben. Hat uns, wenn es an der Zeit war, neue Väter zur Seite gestellt.

Wir sind ihr Ein und Alles. Und darüber hinaus hat sie sich noch um die Tochter unseres letzten Vaters gekümmert. Hat ihr, selbst nach seinem plötzlichen und unerwarteten Tod, ein Heim geschaffen. Ihr ein Dach über dem Kopf gegeben, ihr endlich Aufgaben übertragen, die sie erfüllen durfte. Kurzum, ihrem Leben einen Sinn gegeben. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass das junge Ding nicht in die falsche Gesellschaft geriet, hat sie mit viel Mühe und auch viel Einfallsreichtum davon abgehalten, dem Laster des Tanzens zu frönen. Und hat sie es ihr gedankt? Hat sie es mir oder meiner Schwester gedankt?

Was haben wir nicht alles geopfert, um dieses Unheil von ihr abzuwenden! Ja, es war bestimmt diese Göre, die mich jetzt des Neides beschuldigt. Aber so kenne ich sie. Ich wollte ja nie mit ihr tauschen, die viele Arbeit oder das Schlafen am Feuer. Das wäre nichts für mich gewesen. Und kennen Sie vielleicht jemanden, der mit Tauben befreundet sein möchte? Elendige Viecher. Ohne diese fliegenden Ratten hätte sie es überhaupt nicht geschafft, unsere liebe Mutter zu hintergehen.

Und jetzt behauptet dieses Weib, dass ich voll von Neid sei. Nur weil sie jetzt einen Prinzen, das Schloss, den Hofstaat, den ganzen Reichtum und die Macht über unser Volk hat. Jetzt sind Sie doch mal ehrlich, sehe ich etwa aus, als ob ich neidisch wäre?“

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