Aufsässige Nonnen, surreale Liebhaber, tolle Tristesse

29.10.2017, 12:00 Uhr
Aufsässige Nonnen, surreale Liebhaber, tolle Tristesse

© Foto: Sebastian Zelada

Wie gehabt: Die erste Runde mit dem Titel "Literarische Diskussion" behandelt drei Bücher, die aus drei Perspektiven beleuchtet werden. Einer preist das Buch mit warmen Worten an, die anderen beiden sorgen für die lauwarme bis kalte Dusche.

"Der Hilfsprediger" ist der Favorit von Christina Rauch, die lange in der Buchhandlung Jungkunz tätig war und neuerdings einen Schmökerladen in Nürnberg betreibt. Das Buch der auf historische Romane spezialisierten Engländerin Hilary Mantel kam zwar bereits 1989 heraus, hat aber erst jetzt seinen Weg nach Deutschland gefunden. In einem sittenstrengen Dorf werden die Zügel gelockert: Heiligenverehrung soll keine Rolle mehr spielen, auch sonst darf man auf Geheiß von oben Fünfe mal gerade sein lassen. Eine aufsässige Nonne und besagter Hilfsprediger bringen erst recht Schwung in den Laden.

Preist Rauch die feine Ironie des Romans, so kann Kulturamtsleiterin Claudia Floritz mit der Detailfreudigkeit und dem religiösen Kontext nicht viel anfangen, und Volkshochschul-Direktor Felice Balletta konstatiert: "Jesus hat zwar die Menschen von ihren Sünden erlöst, aber er hat nie den Finger gehoben, um sie von ihrer Dummheit zu befreien."

"Es gibt Autoren, die verfolgt man über alle ihre Bücher", stellt Floritz fest und outet sich als literarische Markus-Orths-Stalkerin. Alle seine Bücher hat sie mitgebracht, darunter das neueste, den dickleibigen Band mit dem schlichten Titel "Max". Dieser Max ist der Maler Max Ernst, neben Dalí und Magritte der Dritte im Bunde der surrealistischen Giganten. Orths rollt mit seiner romanesken Biografie auch das Zeit- und Kulturgeschehen vom Ersten Weltkrieg über Dada und Surrealismus bis zur Flucht vor den Nazis und dem Neuanfang in Amerika auf, wobei er sich an Ernsts Liebesleben mit sechs prägenden Frauen entlanghangelt.

Liebesleben ist immer gut, doch Rauch hatte den Eindruck, keinen Roman, sondern ein Lexikon zu lesen. Auch Balletta bescheinigt den Anfangskapiteln den Eindruck eines "literarisierten Wikipedia". Die Frauengeschichten liefern ihm keinen Schlüssel zu Ernsts Werk und Wesen, dafür nur "ein Abarbeiten hochkomplizierter Beziehungen mit hochneurotischen Personen." Da muss man ja Surrealist werden.

Balletta wiederum hat eine Ausgrabung getätigt. 1954 sorgte die Debütantin Françoise Sagan mit "Bonjour Tristesse" für einen Skandal. Dass da ein Mädchen sein Leben und seine Sexualität selbst in die Hand nimmt und Männer und Frauen gegeneinander ausspielt, brüskierte die ältere Generation und entzückte die Jugend. Heute regt das keinen mehr auf. Ob eine Neuübersetzung dem Werk frischen Pep verleiht? Zumindest geistesgeschichtlich ist "Bonjour Tristesse" mit seinen Anleihen an den Existenzialismus für Balletta immer noch von Interesse. Auch Rauch konzediert, wer das Buch nicht kenne, werde staunen über seine Modernität, und wer es wieder lese, mag sich wundern über die damalige Aufregung.

Im zweiten Teil handeln drei weitere Leserinnen Neuerscheinungen im Schnelldurchgang ab. Bibliotheksleiterin Elisabeth Zeidler hält Daniel Kehlmanns Schelmenroman "Tyll", der den Dreißigjährigen Krieg abarbeitet, für sehr gelungen, desgleichen Konstantin Weckers Memoiren "Das ganze schrecklich schöne Leben" sowie Philipp Bloms Sachbuch über die kleine Eiszeit vom Spätmittelalter bis zum Jahr 1700: "Die Welt aus den Angeln."

Im Gedächtnis der Empfehlungen bleiben Susanne Kramers Tipps für Psychothriller ("Dann schlaf auch du" von Leila Slimani), neurotische Geister (Klaus Cäsar Zehrer: "Das Genie") und die Flucht amerikanischer Sklaven im 19. Jahrhundert ("Underground Railroad" von Colson Whitehead).

Schwerer Stoff liegt der Buchhändlerin Cornelia Bley-Rediger. "Whiteout" von Anne von Canal betreibt tiefschürfende Seelenbohrungen. Mit "Was man von hier aus sehen kann" entrollt Mariana Leky ein Dorfpanorama über einen Zeitraum von 20 Jahren. Und Uwe Timm spürt dem Fluch der idealen Vision nach: Wie das Gedankenspiel einer Idealvorstellung den praktizierten Massenmord der Eugenik gebiert, das verrät sein Roman "Ikarien".

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