Beutetiere dieser Welt

6.11.2012, 14:00 Uhr
Beutetiere dieser Welt

© privat

Ich renne keuchend durch das Unterholz. Der Regen setzte schon vor einer gefühlten Ewigkeit ein, aber die Tropfen schaffen es nur ganz allmählich durch das Blätterdickicht des Regenwaldes. Im Zwielicht der untergehenden Sonne fällt es mir schwer meinen Weg zurück zu finden. Aber genau das muss ich tun, zurück finden. Hier kann ich unmöglich bleiben, er ist viel zu dicht an mir dran.

Es wird langsam feuchter, der Boden dampft unter meinen Füßen und von den riesigen Blättern hoch oben in den Bäumen fallen Sturzbäche herab. Das Wasser sammelt sich erst auf den Blättern und wenn das Gewicht zu groß wird, geben diese nach und es stürzt Richtung Boden. Meine Füße finden deshalb immer schlechter Halt, ich rutsche über Wurzeln und nur mit Mühe schaffe ich es, nicht der Länge nach hinzufallen. Ich muss schneller werden.

Das letzte Mal als ich das bedrohliche Knurren gehört habe, ist zwar schon eine Weile her und vielleicht hat er es sich doch noch anders überlegt. Wir Menschen schmecken bestimmt auch nicht besonders gut. Aber ich muss trotzdem weiterlaufen, nur weiter, so schnell ich kann. Ich klettere gerade über eine besonders dicke, glitschige Wurzel, als ich es wieder höre. Diesmal ganz nah, hinter meiner rechten Schulter. Ich erstarre mitten in der Bewegung und eine Eiseskälte breitet sich in meinem Körper aus. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bleibe einfach stehen, stelle das Atmen ein. Ein plötzliches Krachen zu meiner Linken hilft mir, mich aus meiner Starre zu lösen. Auch mein Verfolger wird dadurch kurz abgelenkt und ich renne los. Blindlings mitten in das Dickicht hinein. Der immer stärker werdende Regen stört mich nicht mehr, ebenso wenig wie der Matsch, der langsam in meine Schuhe sickert. Ich renne immer weiter, versuche dabei Haken zu schlagen, drehe mich immer wieder hektisch um und falle mitten in eine große Pfütze. Auch ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass er jetzt hinter mir steht. Ich will ihn gar nicht sehen, will meinem sicheren Tod nicht auch noch in die Augen blicken. Und dennoch ich drehe mich um, widerwillig und zögern. Er steht circa vier Meter von mir entfernt. Seine bernsteinfarbenen Augen fixieren mich und als er diesmal knurrt, kann ich seine perfekten Reißzähne sehen. Das nasse Fell der Raubkatze glänzt im Dämmerlicht. Er sieht mir direkt in die Augen, beugt seinen Kopf und springt. Als er kurz vor mir stehen bleibt, atme ich seinen fauligen Mundgeruch ein. Ganz kurz denke ich an meinen Zahnarzt und wünsche mich auf seinen Behandlungsstuhl. Da legt die Bestie ihren Kopf schief, holt mit der rechten Pranke aus und schlägt zu.

Mit einem lauten Schrei wache ich auf, ich zittere am ganzen Körper, mein Nachthemd ist schweißnass und klebt an mir. Ich versuche tief Luft zu holen als meine Zimmertür mit Schwung auf fliegt und meine Mutter, mit einem Nudelholz bewaffnet, herein stürmt. Sie stürzt zum Fenster und reißt den Vorhang weg.

Als sie merkt, dass sich kein vermeintlicher Angreifer dahinter versteckt, lässt sie das Nudelholz langsam sinken und setzt sich erleichtert auf den Rand meines Bettes. „Oh Clara“, seufzt sie, „was hast du denn diesmal wieder geträumt.“ „Ein Panther“, erwidere ich, „es war ein Panther und ich bin in letzter Sekunde aufgewacht. Er war gerade dabei Gulasch aus mir zu machen.“ Mama lächelt mich an und sagt, „Du und deine Träume. Was war es diesmal, was hast du gestern Abend im Fernsehen gesehen?“ Ich setze mich auf und lächle zurück, „Nur eine Tier-Doku, nichts Schlimmes. Ich glaube es ging um die großen Beutetiere auf dieser Welt. Ich bin wohl dabei eingeschlafen. Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“ Meine Mutter blickt auf das Nudelholz in ihrer Hand und meint, „Na ja, vielleicht bin ich einfach etwas überängstlich, inzwischen sollte ich deine Träume kennen. Und solange du nicht, wie nach dem Bericht über die Freeclimber, nachts versuchst die Fassade runter zu klettern, ist ja alles gut.“

Ich erinnere mich mit einem Schaudern und gelobe Besserung. Der weitere Tag plätschert ereignislos vor sich hin. Ich treffe mich mit meinen Freunden und wir jammern gemeinsam über das nahende Ferienende. Tagsüber läuft zum Glück fast immer alles glatt in meinem Leben, nur die Nächte sind anstrengend. Ich nehme mir fest vor, meine geplagte Mutter nicht weiter aufzuregen und schalte für mein Einschlaf-Fernsehprogramm auf einen Sender, der nur politische Diskussionen bringt. Dabei kann ja kaum etwas schiefgehen. Durch die monotonen Gespräche werde ich langsam müde und drifte weg. Ein Gewerkschaftsvertreter versucht gerade den anderen Beteiligten seinen Standpunkt klar zu machen. Das Letzte, das ich vor dem Einschlafen höre ist, „…und meiner Meinung nach stinkt der Fisch immer vom Kopf…“. Ich denke noch ganz kurz, „Verdammt!“ und schlafe ein.



 

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