Das Treffen im Park

7.4.2009, 00:00 Uhr
Das Treffen im Park

© De Geare

Auch wenn es Sozialpädagogen und Suchtberater nicht hören wollen: Manchmal hilft nur noch Alkohol - zumindest für kurze Zeit . . . Samuel hatte diese Zeiten nach seinen Rauswurf ausgeweitet. Oft kam er nur aus dem Bett, wenn er schon morgens am Whisky nippte. Mittags brauchte er einen doppelten. Und abends legte er richtig los. Samuel verlor sein Ansehen, seine Wohnung und natürlich auch seine Frau. Irgendwann lebte er auf der Straße. Hier, bei den anderen im Park, die häufig noch schlimmere Geschichten erlebt hatten, vergaß er, wie schnell alles gegangen war.

«Heute Abend kommt Gott», sagte der älteste unter den Pennbrüdern unvermittelt. Er schlug sich gegen die Stirn. «Gut, dass ich daran denke. Er hat es mir mehrmals gesagt.»

«Was ist los?» fragte Heinz, der daneben stand.

«Gott kommt», wiederholte Ezechiel. «Der Herr im Himmel, Schöpfer des Universums, Freund der Armen und Waisen und so weiter. Der Typ, der uns all die Jahre vergessen hat. Er will hier im Park vorbeischauen.»

«Wann?», mischte sich Samuel ein.

«Gestern Nacht hat er mir das gesagt.»

«Ich meine: Wann kommt er?»

«Gegen fünf.»

Zu diesem Zeitpunkt hielten sich schon alle vor Lachen die Bäuche. Man überprüfte den Schnaps, den Ezechiel zu sich genommen hatte. Die Flasche machte die Runde. Im Laufe des Nachmittags nach sehr schlechtem Wein aus Tetrapaks vergaßen sie, welcher Besuch ins Haus stand.

Gott erschien zwei Minuten nach fünf. Er war in ein Grundsatzgespräch mit dem Heiligen Geist verstrickt gewesen, das zu einem Streit zwischen zwei Propheten geführt und von der Frage gehandelt hatte: Wie viel kann man dem Menschen zumuten? - Gott stellte sich in Mitte der Trinkgemeinschaft.

«Wie euch Ezechiel sicher mitgeteilt hat», Ezechiel nickte eifrig, «habe ich heute Zeit. Einige Dinge vorab: Fragen nach dem Sinn beantworte ich grundsätzlich nicht. Fragen, ob das Leben gerecht sei, auch nicht. Die eine Frage, die ihr mir heute stellen dürft, muss von euch handeln - und zwar nur von euch. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass danach alles gut wird. Das denken nur durchgeschossene Theologen. Ihr seid für euer Leben selbstverantwortlich! Und damit das ebenfalls gleich vom Tisch ist: Ihr braucht euch vor überhaupt nichts zu schämen! Das schlechte Gewissen ist eure Erfindung, nicht meine.»

Gott räusperte sich. Dann sah er auf die kleine Gemeinde, die sich um ihn geschart hatte. Nur einer war darunter, der nicht ins Bild der abgerissenen Pennbrüder passte. Anzug und Siegelring stachen allzu deutlich hervor. Außerdem hielt er Abstand zu den Menschen, die eindeutig unter seiner Würde waren . . .

Samuel erkannte ihn sofort. Robert Heßling hatte mit ihm gespielt, seinen nicht immer guten Stand bei den Kollegen ausgenutzt, bis er, Samuel, einen Fehltritt auf der schwankenden Strickleiter der Karriere gemacht hatte und - pädäng! - auf den harten Boden der Realität gelandet war. Samuel war nicht der Einzige gewesen, dem es angesichts des neuen Abteilungsleiters so ergangen war. Heßling hatte Familien zerrissen, Existenzen zerstört und eine außergewöhnlich schöne Frau geheiratet. Samuel hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt, hier, in diesem sonst so gottverlassenen Park, eine Viertelstunde nach fünf, doch angesichts des Herrn riss er sich, so gut es eben ging, zusammen.

Gott nahm sich für jeden Zeit. Für Heinz, für Ezechiel und die anderen. Und alle gingen mit einem Lächeln. Auch Samuel hatte eine Idee, was er mit sich und dem bisschen Leben, das ihm geblieben war, anstellen konnte.

Dann kam Heßling an die Reihe.

«Was machst du hier?» fragte Gott.

«Ich stelle hier die Frage!»

Heßling mochte es nicht, wenn er sich erklären sollte. Zumal er sich nicht erklären konnte. Heßling hatte auf eine innere Stimme gehört, die ihn - unerklärlicherweise - von seinem Schreibtisch weg in den Park getrieben hatte. Außerdem musste er wieder zurück zur Arbeit.

«Ich höre.»

«Wie alt werde ich?»

«100.»

Damit verschwand der Herr.

Aus einem Augenwinkel beobachte Samuel seinen Peiniger, der feixend zur Straße lief und sich vor Genugtuung die Hände rieb. Typisch, dachte Samuel. Das Leben ist ungerecht. Doch er warf die halbvolle Whiskyflasche in den Müll und konzentrierte sich auf den Einfall, den er nach seiner Frage an Gott gehabt hatte.

Heßling erlebte die nächsten Tage in beschwingter Fröhlichkeit.

Ich habe alles richtig gemacht, rekapitulierte er immer wieder und nahm einen Schluck vom Cognac. Sonst würde ich nicht mit einem so langen Leben dafür belohnt werden.

Am Morgen nach einem ausgiebigen Saufgelage brach Heßling im Büro zusammen. Als er erwachte, fand er sich an unzähligen Drähten und Schläuchen angeschlossen. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen oder zu sprechen. Er konnte nichts tun, doch bekam alles mit.

Innerlich fluchte er auf den Höchsten.

«Schau mich an! Was soll das? Du hast gesagt, dass ich Hundert werde.»

Gott verspätete sich zwei Minuten. Dann zog er eine Augenbraue nach oben.

«Das stimmt auch. Ich habe dir nur nicht verraten, wie.»