Der Schatz der Erinnerung

24.9.2014, 13:00 Uhr
Der Schatz der Erinnerung

© Archivfoto: Hans-Joachim Winckler

Ihre Vergangenheit liegt in einem Schuhkarton. Da sind Gegenstände, die ihre Identität bestimmen. Das Leben von Martha Huber (die Namen der Betroffenen und der Mitarbeiter wurden auf Wunsch der Heimleitung geändert) in einer Biografie-Box. Huber öffnet den Deckel: Nadel und Faden. Knöpfe. Schablonen für Wäschestickerei. Und Familienfotos. Bilder von der Hochzeit und den Enkeln.

„Ich habe für das ganze Dorf die Brautkleider genäht. Und auch für die Konfirmation“, sagt sie. Ihre Blicke flitzen zwischen den Gegenständen hin und her. Ihre Hände sind flink und mit Altersflecken getupft. Die Fingerringe klimpern beim Stöbern. Sie trägt ein rosafarbenes T-Shirt, darüber eine lange Perlenkette. Über ihrer Schulter hängt eine kleine blaue Lederhandtasche.

„Wir wissen nicht genau, ob Demenzkranken klar ist, wo sie sind. Sie meinen, sie sind auf Reha oder bei einem Ausflug mit der Awo. Oder sie wissen es vielleicht und haben Angst vor der Antwort“, sagt Stefanie Wiegel, Betreuerin im Pflegeheim, zu Martha Hubers Schwiegertochter.

Momente des Glücks

Gemeinsam sitzen sie neben ihr im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa. Martha öffnet ihre Biografie-Box nicht zum ersten Mal und dennoch hat sie sie nicht sofort erkannt: „Manchmal weiß ich einfach nichts mehr“, sagt sie und lacht. Ihr Gesicht hellt sich auf, sie klatscht die Hände vor dem Gesicht zusammen, als sie ihre Nähutensilien erkennt und zu jedem Stück das passende Kapitel Vergangenheit erzählt. Ein glücklicher Moment.

Stefanie Wiegel ist Betreuerin für Demenzkranke in Großhabersdorf. Einzel- und Gruppenbetreuung, Gymnastik, Gespräche oder Singen gehören zu ihrem Angebot. Heute konzentriert sie sich auf die Einzelbetreuung. Ihr nächster Patient ist Peter Schirmer. Er sitzt noch am Frühstückstisch und kaut an einem Stück Brot. Stefanie Wiegel nimmt ihn zur Begrüßung in den Arm. Er lächelt.

Anschließend legt sie verschiedene Getreideähren auf den Tisch. „Können Sie mir den Unterschied erklären?“ Er streicht über die fünf Ähren und lacht. „Die Gerste ist jetzt schon weg“, sagt er. Er kann die Sommer- von der Wintergerste unterscheiden. Hafer und Weizen verwechselt er. „Jetzt weiß ich wieder Bescheid, Herr Schirmer, danke“, sagt die Pflegerin.

Bewegung entspannt

Im ersten Stock des Pflegeheimes liegt Elisabeth Meier im Bett. Die Beine hat sie eng aneinander gepresst. Ihre Arme sind über der Brust verschränkt und die Hände zu Fäusten geballt. Zur Begrüßung küsst Stefanie Wiegel die alte Frau auf die Wange und nimmt sie fest in den Arm.

Eine Reaktion kommt nicht. Der Körper bewegt sich nur, weil Wiegel versucht, die Liegeposition zu ändern: „Wir machen es ein bisschen bequemer“, sagt sie und nimmt ihre Hände: „Komm, tanzen wir. Du bist eine flotte und gute Tänzerin.“ Sie schaltet den CD-Player an und schaukelt Elisabeth Meiers Arme in großen Bewegungen im Takt der Volksmusik und singt dazu.

Die geballten Fäuste lockern sich ein wenig und mit jeder Strophe entspannt sich der steife, dünne Körper. Elisabeth Meier will auch singen und kann es nicht. Doch dafür sprechen ihre Augen. „Du bist die beste Tänzerin im Bierzelt. Wollen wir noch mal tanzen?“, fragt die Betreuerin. Elisabeth Meier lächelt. Ihre Augen sagen „Ja“.

Mittagszeit: Elisabeth Meier hat Besuch von ihrer Tochter, die sie mit einem Löffel füttert. Die Demenz kam schleichend, berichtet die Tochter. Sie nahm ihr die Erinnerung an ihren verstorbenen Sohn, an ihre Familie, an ihre Identität. Ihre Enkel erkennt sie nur manchmal.

„Das Leben ist wie ein Bücherregal. Jedes Buch ist ein Lebensjahr. Die Demenzerkrankung wirft die letzten Bücher um. Zurück bleiben oft nur die Bücher, die am Anfang stehen. Kinderbücher. Demenzkranke sind Kindern in ihrem Verhalten ähnlich, nur dass sie nichts mehr dazulernen können.“ Diesen Vergleich wählt Stefanie Wiegel.

Im Gebäude gegenüber öffnet die Tagesbetreuung für demenzkranke Senioren montags, mittwochs und freitags. Im Kontrast zu der modernen Küche stehen altmodische Möbel: das Wohnzimmer von Omi. Neun Gäste sitzen mit drei Betreuerinnen um einen großen Gemeinschaftstisch. „Danke für diesen Guten Morgen“ ist ihr Begrüßungslied. Alle heben die Arme, winken sich zu. Die beiden Männer am Tischende singen nicht. Heute wird noch ein Geburtstagslied für Waltraud Müller gesungen. Sie singt mit und dabei laufen ihr Tränen über die Wangen, die die Betreuerin ihr abwischt.

Feste Strukturen

„Zammkumma“ — ist zugleich Motto und Name der Tagesbetreuung des Pflegeheims. Heute gibt es Gemüsesuppe. Wer helfen möchte, darf Gemüse schneiden. Das gemeinsame Kochen ist Teil einer festen Tagesstruktur, die bei der Betreuung von Demenzkranken wichtig ist. Begrüßung, Singen, gemeinsames Kochen, Spiele, Handarbeit oder gymnastische Übungen. Lea Weber, Sozialpädagogin, leitet die Gruppe. In Gesprächen mit den Senioren lässt sie sogenannte „Schlüsselwörter“ einfließen. Das sind Begriffe, die Demenzkranke animieren sollen über ihr Leben zu sprechen. Der Beruf. Die Familie. Die Jugend. Der Krieg. Was hat sie geprägt?

Ein paar Frauen melden sich freiwillig zum Gemüse schneiden, auch Heide Schuster. Gutgelaunt spricht sie über ihre Kindheit. Gutmütig war ihre Mutter und sie selbst ein freches Mädchen. Paul Sommer, der mit am Tisch sitzt, hat das Gespräch verfolgt. „Mein Vater wusste immer, wenn wir Kinder Dinge angestellt haben und es ihm nicht erzählt haben“, sagt er leise. Da müssen sie gemeinsam lachen. Sie haben einen Schatz der Erinnerung geborgen.

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