Doktor Vielguts komische Kur

5.2.2013, 09:56 Uhr
Doktor Vielguts komische Kur

© Winckler

Emily erstarrte, als sie das Rezept in Empfang nahm. Das war kein Rezept, das war ein ganzer Rezeptblock! Ungläubig begann sie zu blättern. Keine Medikamente, dafür eine Fülle von Empfehlungen, nein, Verhaltensanweisungen, in Doktor Vielguts kleiner, unnachgiebiger Handschrift, die sich fast durch den Block bohrte.

Ebenso unnachgiebig hatte der Doktor sie über seine Brillengläser hinweg angesehen: „Ich schreibe dir ein Rezept raus, und ich kann dir nur empfehlen, dich daran zu halten. Um es ganz klar zu sagen: Es gibt keine Alternative. Es liegt natürlich bei dir, ob du überhaupt geheilt werden willst. Diese Entscheidung kann dir keiner abnehmen, die musst du schon selbst treffen.“

„Aber...“ Emily war ehrlich entsetzt. Bestimmt war sie doch gar kein so schwerer Fall, wie Doktor Vielgut sie glauben machen wollte. Sie schlief gut, oft zumindest, hatte nur selten schlechte Träume, konnte ganz gut abschalten. Naja, nicht immer, aber das war doch normal. Gut, manchmal fuhren ihre Gedanken mit ihr Karussell, Runde um Runde, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und unten, vorne und hinten war. Sie nahm sich zu viel vor, setzte sich selbst unter Druck, aber das waren doch alles Dinge, die man ändern konnte...

„Eben“, sagte Doktor Vielgut und schob sie auf die Türe zu. „Du kannst das Rezept morgen früh abholen.“ Hatte Emily etwa laut gesprochen? Das war auch etwas, was ihr Sorgen machte. Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Ihre Wahrnehmung schien manchmal zu stolpern, und ihr Gedächtnis erlaubte sich alarmierende Aussetzer.

Seufzend begann sie, das Rezept zu lesen. Sie lachte hysterisch auf. Absurd! „Stehe keinesfalls vor 9 Uhr auf. Beginne den Tag mit einem Spaziergang. Schreibe keine To-do-Listen. Lass deine E-Mails drei Tage lang ungelesen. Ruf nur zurück, wenn es dir in den Kram passt. Lege dir ein schönes Kissen für den Büroschlaf zu. Räume nicht auf. Gönne dir mittags ein Bad, ohne dich schuldig zu fühlen. Mäandere sinnlos durch den Tag. Geh langsamer. Kauf dir notfalls eine Schildkröte als Begleittier. (Kein Scherz: Das war um 1840 herum in Paris mal Mode, Gruß, Dr. V.)“

So ging das seitenweise weiter, dazwischen Rezepte für Slow Food, Zitate („Nichts zu tun ist harte Arbeit“, Oscar Wilde), Exkurse über die protestantische Arbeitsethik und darüber, wie sehr die Arbeit in unserer Gesellschaft vergötzt würde.

„In der Antike galt die Muße als erstrebenswertes Ideal, als Schwester der Freiheit“, schrieb Vielgut. Na toll, wenn man es sich leisten konnte. Doktor Vielguts Ratschläge waren was für Leute, die von einer Leibrente lebten, falls es das noch gab, oder sonstwie alimentiert wurden. Sie hätten nicht zum vertraulichen Du übergehen sollen, dachte Emily, nun glaubte der Doktor, er könne sich alles erlauben. Aber seine Diagnose hatte ihr Angst gemacht, und ihre eigenen Aussetzer machten ihr noch mehr Angst. Widerstrebend begann sie, einige der harmloseren Empfehlungen auszuprobieren.

Es gelang ihr schlecht. Die E-Mails nicht lesen – Emily wand sich schon beim bloßen Gedanken daran. Auch wenn sie sich morgens nochmal umdrehte oder den Anrufbeantworter einfach vor sich hin blinken ließ, fühlte sie sich schuldig. Das unbehagliche Gefühl in der Magengrube ließ ein wenig nach, wenn sie Doktor Vielguts kritische Anmerkungen las. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie ihm manchmal zustimmte. „Unsere Kultur missbilligt das Nichtstun“, schrieb er, „selbst in der Freizeit sollen wir aktiv sein.“ Stimmt, immer musste irgendwas getan werden. Warum eigentlich?

Nach einigen Wochen merkte Emily, dass sie besser schlief. Sie fühlte sich nicht mehr ganz so mies, wenn sie Dinge vorsätzlich liegenließ. Im Großen und Ganzen fühlte sie sich sogar selbstbewusster, wacher, rebellischer, und so gefiel sie sich gut. Im Job hatte ihr Doktor Vielguts komische Kur nicht geschadet. Im Gegenteil, sie arbeitete klarer und konzentrierter als vorher. Als ihr das bewusst wurde, ärgerte sie sich. Sie quälte sich doch nicht durch diese Rosskur mit all ihren Härten, Risiken und Nebenwirkungen, damit sie besser funktionierte! Das war etwas, was sie allein für sich tat. Und plötzlich begriff sie, worum es dabei wirklich ging: Nicht darum, sich gehen zu lassen und gar nichts zu tun, sondern um eine neue Freiheit, zu tun und lassen, was sie wollte. 



 

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