Durchs Labyrinth der Alters-Irrungen und -Wirrungen

23.4.2017, 15:30 Uhr
Durchs Labyrinth der Alters-Irrungen und -Wirrungen

© Foto: Euro-Studio/Sabine Haymann

"Hast du meine Uhr gesehen?", fragt André (Ernst Wilhelm Lenik) zum wiederholten Mal. Die Pflegerin muss sie gestohlen haben. Dass er selbst sie verlegt hat — unmöglich. Schließlich gehe es ihm gut, versucht er Tochter Anne (Irene Christ) einzureden. Betont unbeschwert zappelt er mit den Gliedmaßen. Annes bitteres Lächeln sagt: Papi, du bist krank, und ich weiß es längst.

Mit "Vater" macht das Schwarzwälder Tour-Ensemble eine unsichtbare Krankheit sichtbar. Der Zuschauer taucht ein in die Innenwelt des dementen Protagonisten; das Stück entsteht aus seiner subjektiven Perspektive, die Erzählstruktur richtet sich nach seinen Stimmungen. Die Uhr, die André immer wieder verlegt, wird zum Ariadnefaden in einem zeitlosen Labyrinth.

Droht seine Verwirrung ins Unermessliche zu steigen, leitet die Inszenierung abrupte, auf Dauer aber allzu ermüdende Szenenwechsel ein. Melancholische Klaviermusik ertönt, die Bühnenlichter erlöschen, Requisiten werden verschoben. Erinnerung, Gegenwart oder Wahn: Es bleibt ungewiss, welcher Film im Kopf Andrés dem Zuschauer gerade vorgeführt wird. Neben Zeit und Ort verschwimmen auch Identitäten. Immer wieder verwechselt André die Pflegerin (Juliane Köster) und die Krankenschwester (Maja Müller) mit seiner verunglückten Tochter Elise, ohne dass der Zuschauer sicher ist, wer eigentlich gerade in welcher Rolle steckt. "Vater" fordert ein geduldiges Publikum, das sich auf das labyrinthische Erzählspiel wie auf die Gemütsschwankungen des alten Mannes einlässt und selbstständig Lücken füllt.

Wie schwer André für Außenstehende zu ertragen ist, macht Irene Christ als Anne spürbar. Strenger Hosenanzug, coole Einrichtung, Gläschen Wein am Abend, eine Mittelschichtbürgerin wie aus dem Bilderbuch. Einzig Christs engagiertes Spiel verhindert, dass diese Anne zur Karikatur gerinnt.

Glänzend macht Ernst Wilhelm Lenik seine Sache. Er brilliert vor allem in Andrés schwachen Momenten. Ob er nun mit hilflos ausgebreiteten Armen verzweifelt in den Zuschauerraum "Das ist doch hier meine Wohnung?" ruft oder sich kindlich vor Annes wütendem Partner Pierre (Dieter Bach) zusammenkauert — man möchte es der Tochter gleichtun und ihn als "mein kleiner Papi" ins Herz schließen.

Am Ende sitzt André gedankenversunken im Rollstuhl. Eben hat er die Krankenschwester erneut mit Anne verwechselt. Oder doch Anne mit der Krankenschwester? Und wo zum Teufel ist gleich wieder diese Uhr? "Ich verliere meine Blätter", sagt er. Das Licht erlischt, und der zunächst zögerliche Applaus verrät viel über die Bedrücktheit im Saal.

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