Europa in der Zerreißprobe

2.12.2016, 21:00 Uhr
Europa in der Zerreißprobe

© Foto: Martin Schutt/dpa

Illusionen, dass der Kelch schon irgendwie an Europa vorbeigehen wird, gibt sich die ehemalige Pastorin nicht hin. Vielmehr malt sie in Fürth den Teufel an die Wand: „Es werden noch viel mehr“, prophezeit die erste CDU-Ministerpräsidentin nach der Wende in den neuen Bundesländern mit Blick auf den Flüchtlingsstrom. Und die 58-Jährige ist realistisch genug, um zu erkennen, dass nur der geringste Teil der globalen Fluchtbewegungen Europa erreicht.

Was die weltweiten Wanderungen beflügelt, ist nach Einschätzung der vor zwei Jahren von Bodo Ramelow (Die Linke) abgelösten Weimarerin neben Krisen und Kriegen das vom Internet ins allgemeine Bewusstsein gerufene globale Wohlstandsgefälle. „Alle haben ein Recht auf Verbesserung ihrer Verhältnisse“, betont Christine Lieberknecht und fügt hinzu: „Wir werden abgeben müssen, das ist nicht schmerzfrei“.

Gemessen an den Missständen in vielen Ländern könne man sich nur wundern, dass sich nicht noch viel mehr Menschen auf den Weg nach Europa gemacht hätten. Die meisten Flüchtlinge bewegten sich im Nahbereich ihrer Heimatländer.

In Europa wiederum gelte es die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern, um den immer stärkeren radikalen Kräften Einhalt zu gebieten. Und das Entgegenkommen an Flüchtlinge dürfe die vitalen Interessen der Staatengemeinschaft nicht beeinträchtigen. Ein Einwanderungsgesetz müsse her, damit die bedürftigen Einheimischen nicht auf der Strecke bleiben. Lieberknecht rief dazu auf: „Wir müssen uns ernsthaft mit den Fluchtursachen beschäftigen.“ Abschotten allein könne keine Lösung sein. Auch in als „sicher“ eingestuften Herkunftsländern dürfe man Menschen nicht allein lassen. Das koste natürlich etwas. Bei der Hilfe zur Selbsthilfe dort sei die europäische Wirtschaft gefordert.

Immenser Nutzen

Dabei ist sich die Thüringerin völlig im Klaren darüber, dass der Wirtschaftsmotor auf Dauer nur mit gut ausgebildeten Einwanderern rund laufen kann. Gerade in dem von der Löhe-Hochschule beackerten Gesundheitsbereich spielen sie eine entscheidende Rolle. Aus dem Auditorium ging die Aufforderung an die Politik, den immensen Nutzen von Flüchtlingen für den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft stärker herauszustellen.

Nüchtern bilanziert Christine Lieberknecht den Vertrauensverlust des gemeinsamen Hauses Europa. Zur Kurskorrektur fordert sie das Rückbesinnen auf ethische Werte, die der Staatenverbund anderen Großmächten voraushabe. „Es war immer Europas Stärke, mehr zu sein, als nur ein Wirtschaftsraum“, sagt die Politikerin. Das Prinzip Hoffnung ist ihre Richtschnur.

Bei der nächsten öffentlichen Ringvorlesung der Fürther Hochschule beleuchtet der Präsident der europäischen Sozialversicherungsvereinigung (ESIP), Franz Terwey, am 14. Dezember um 18 Uhr die Auswirkungen des EU-Einigungsprozesses auf die Strukturen der deutschen Sozialversicherung. Der Eintritt ist frei.

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