Gewehrsalven und viel Gefühl

21.5.2015, 12:33 Uhr
Gewehrsalven und viel Gefühl

© Foto: Uri Nevo

Die Scheibe des Mondes ist fahl. Er weckt keine romantischen Gefühle. Doch auf ihn kann man sich verlassen. Bis zum letzten Moment behauptet er an diesem Abend unbeirrt seine Position. Es wird die einzige Konstante in den 65 Tanz-Minuten bleiben. Der Rest ist — fragil.

Dabei liegt im Anfang noch eine ermutigende Sicherheit. Eine Frau erscheint in einem engen Lichtkreis. Ihre Bewegungen strahlen Stärke aus, trotzdem haftet ihr eine Ahnung von Verletzlichkeit an. Die Männer, die sie kurz darauf stürmisch im Pulk umkreisen, reißen sie zunächst nicht aus ihrer Vertiefung. Doch ab jetzt müssen Fragen beantwortet werden.

Zu wem gehöre ich? Was wollen die anderen? Passe ich mich an? Oder stelle ich mich dagegen? Das sind so ein paar von den Dauerbrennern, die sich aufdrängen. Aber geht es hier wirklich ums Miteinander, das Leben und Überleben im Gewimmel der vielen? Choreograf Rami Be’er hält grundsätzlich nicht viel von allzu vordergründigen Deutungsspuren. In Interviews hat der 60-jährige künstlerische Leiter der israelischen Kibbutz Contemporary Dance Company klar gemacht, dass er keine Lösungen anbietet, sondern „nichts als Fragezeichen“.

Die setzt Be’er allerdings mit Nachhall. Sein „If at all“ hat er in jedem Detail konzipiert. Das beginnt bei den Kostümen und der Bühne, geht über das Licht bis zur Musik. Auf der Playlist tauchen Trent Reznors Nine Inch Nails neben Massive Attack und Olafur Arnalds auf. Nichts davon schmeichelt sich ein. Gewehrsalven und Schreie treiben den harschen, aggressiven Grundton auf die Spitze.

Als Choreograf hat Be’eer mit seinem exzellenten Ensemble Sequenzen erarbeitet, die an uralte Stammesrituale gemahnen. Getanzt wird mit großer Kraft, athletisch, äußerst genau und immer wieder in synchronen Abläufen. Vielen Szenen wohnt eine extreme Doppeldeutigkeit inne. Was ein Akt der Gewalt von Männern gegen eine Frau sein könnte, schlägt plötzlich um und lässt Gefühl vermuten. Das Spiel mit den wechselnden Empfindungen wiederholt sich. So werden aus Kämpfern geschlagene Figuren, die sich in embryonale Schutzhaltungen verkriechen.

Nein, Be’er erzählt keine stringente Story. Doch er spielt virtuos mit den Gedanken und Assoziationen seines Publikums. Die politische, gesellschaftliche Dimension seiner Arbeit kommt aus diesem unerschöpflichen Pool, der angefüllt ist mit Wissen, Informationen und Vorurteilen. Vielleicht liegt in diesem so mutigen wie gewagten Ansatz die größte Kunst des Rami Be’er. Denn er macht die Zuschauer zu Mitwissern und traut ihnen zu, aus ihren Ahnungen die richtigen Geschichten zusammenzusetzen.

Im Stadttheater wurden Rami Be’er und die 18 Tänzerinnen und Tänzer aus dem Kibbutz Ga’aton jetzt nach einer mitreißenden Premiere gefeiert. „If at all“ hielt das Versprechen des Compagnie-Chefs und ließ Fragezeichen stehen. Zum Beispiel, warum um alles in der Welt die Truppe zu guter Letzt samt und sonders in Blümchen-Corsagen auftrat.

Weitere Termine: heute, morgen und Samstag, jeweils 19.30 Uhr, Stadttheater.

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