Integration: Wenn die Flucht im Klassenzimmer endet

20.1.2016, 11:00 Uhr
Integration: Wenn die Flucht im Klassenzimmer endet

© Foto: Linke

Abschiebung ist kein abstraktes Wort mehr, seit Stella gehen musste. Anfang Dezember bekam die Familie des Mädchens einen Anruf, in der Regel bleibt dann eine Woche Zeit, um sich vom Leben in Deutschland zu verabschieden. „Wir haben es am Montag erfahren“, erzählen Tobias (15), Laura (14) und Alica (16). „Am Donnerstag war sie weg.“

Integration: Wenn die Flucht im Klassenzimmer endet

© Hans-Joachim Winckler

Für Stella und ihre Familie ging es erst nach Bamberg, ins „Rückführungszentrum für Asylbewerber ohne Bleibeperspektive“, dann zurück nach Albanien. „Das war schmerzvoll für uns“, sagt Silke Nicolai, Rektorin der Stadelner Hans-Sachs-Mittelschule. Auch Stellas jüngerer Bruder hatte die Schule besucht: „Die beiden waren über zwei Jahre bei uns. Sie haben sich so gut entwickelt!“ Eine Lehrerin holte die Kinder schließlich extra noch einmal aus dem „Abschiebelager“ nach Fürth, damit die Schule ihnen einen Abschied bereiten konnte – samt kleinem Probetraining bei der SpVgg für Stellas Bruder.

Beide hatten zunächst Übergangsklassen besucht: Kinder, die überhaupt kein Deutsch sprechen, lernen hier die Sprache, ohne die sie dem normalen Unterricht nicht folgen könnten. Weil sie schnell Fortschritte machten, konnten sie schließlich in Regelklassen wechseln.

Fast täglich kommen Neue

Die Geschwister waren ein besonderer Fall, weil sie schon so lange an der Schule waren. Aber Kinder willkommen zu heißen und wieder zu verlieren, ist Alltag geworden. „Es kommen fast täglich neue Schüler dazu“, sagt Nicolai. Meist sind es Kinder aus Flüchtlingsfamilien, manche bleiben nur für einige Zeit, bis die Familien umziehen oder zurückgeschickt werden. Bei der Frage, wie viele Schüler die Hans-Sachs-Schule hat, muss sie kurz nachschauen: „Heute sind es 153.“

Die Schule ist die kleinste Mittelschule in Fürth, acht Klassen gibt es, drei davon sind Übergangsklassen. Seit drei Jahren sammelt man hier Erfahrungen mit Ü-Klassen, die inzwischen an vielen Grund- und Mittelschulen zu finden sind. Es sind sehr gute Erfahrungen, versichert Nicolai, die Lehrer leisteten Enormes. „Ich würde mir wünschen, dass das, was im Kleinen hier an der Schule gelingt, auch im Großen, in der Gesellschaft glückt.“ Mit Sorge verfolgt sie, wie nach den Übergriffen von Köln über Flüchtlinge diskutiert wird: „Angst und Vorurteile sind die schlechtesten Berater, die man haben kann.“

Auch deshalb hat die Schule dem Thema „Flucht und Asyl“ in dieser Woche einen Projekttag gewidmet. Er war seit längerem geplant, sei aber jetzt, nach Köln, umso wichtiger. Ziel war es, Vorurteilen, die die Kinder auf der Straße, beim Bäcker, von Eltern, Großeltern oder in sozialen Netzwerken aufschnappen könnten, Fakten entgegenzusetzen. „Wir wollen, dass ihr wisst: Das ist anders“, erklärt Lehrerin Susanne Wolf am Vormittag der Klasse, die gerade vor ihr sitzt. Sie beginnt, von Fluchtgeschichten zu erzählen und davon, wie Asylverfahren funktionieren.

Wolf ist Migrationsbeauftragte der Schule und hat mit Kollegen einen Arbeitskreis gegründet: „Projekt Integration“. Ihr lauschen an diesem Tag auch einige junge Berufsanfänger, die sich etwas abschauen sollen. Denn heute hat fast jeder Kinder in der Klasse, die nicht oder schlecht Deutsch sprechen, sagt Judith Stiffel, die die angehenden Lehrer ausbildet.

Frage an Tobias, Laura und Alica: Macht es ihnen Angst, dass so viele Menschen nach Deutschland kommen? Nein, sagen sie. Sie haben die Bilder mit den Flüchtlingen in Schlauchbooten gesehen: Es schockiert sie, dass es so vielen Leuten nicht gut geht.

Haben sie Sorge, dass die Menschen aus den verschiedenen Ländern Deutschland verändern? „Wenn, dann zum Positiven“, ist sich Tobias sicher. Laura überlegt, sagt dann: „Deutschland verändert sich." Ein multikulturelles Fürth kommt ihr „lebendiger“ vor. Ein Beispiel: Ohne Dönerläden, sagt sie, wäre die Stadt ärmer.

Furcht habe sie vor etwas anderem, gesteht Alica. Neulich war die Klasse im Nürnberger Dokuzentrum, sie nimmt im Unterricht gerade den Zweiten Weltkrieg durch. „Ich habe Angst, dass es einen dritten Weltkrieg gibt.“ Die Nachrichten von Terroranschlägen ängstigen sie. Und die Erfahrung aus der Geschichte, „wie schnell sich Menschen manipulieren lassen“.

Auch Worte verletzen

Vor zwei Jahren hat Silke Nicolai neben der Schulleitertätigkeit ein Zusatzstudium im Fach „Deutsch als Fremdsprache“ absolviert. Integration ist ihr ein persönliches Anliegen. Ihre Überzeugung: „Es klappt, wenn man sich an gemeinsamen Werten orientiert.“ An erster Stelle stehen „Toleranz und ein respektvoller, würdevoller Umgang miteinander“ – das gilt für jeden Schüler, ganz gleich, was ihn von anderen unterscheidet. Die Schule trägt, wie viele andere in Fürth, den Titel „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ – ein Auftrag, sich gegen Diskriminierungen aller Art starkzumachen.

An der Eingangstür empfängt einen ein leuchtender Aushang, darauf steht das „Sozialziel des Monats“: Ich verletze niemanden durch Worte und Taten. Dass Worte wie Schläge sein können, dafür müsse man die Kinder sensibilisieren, sagt Nicolai. Auch werde ihnen vermittelt, ergänzt ein Kollege, dass „wir alle multikulturell sind“: dass die meisten Menschen in ihrer Familiengeschichte Migrationserfahrungen haben.

Die Schüler „empathiefähig zu machen“, das sei eines der großen Ziele, die Schule haben muss, meint Nicolai, ein Fach „Emotionale Bildung“ fände sie gut: „Wir Lehrer, die wir so viel Zeit jeden Tag mit den Kindern zusammen sind, haben eine große Verantwortung: Aus unseren Schülern werden Erwachsene, die die Zukunft dieses Landes gestalten werden.“

Empathie als Lernziel

Ihr Eindruck: Die Bemühungen fruchten. „Es ist toll zu sehen: Man kann Menschen in eine gute Richtung prägen, wenn man das will.“ Und ganz deutlich erkennt sie Unterschiede zu früheren Schülergenerationen: „Die Denkweise ist anders als vor zehn Jahren. Diese Generation ist auf einem guten, offenen Weg. Der Wandel ist offensichtlich.“

Zu Stella haben Laura, Tobias und Alica übrigens selbst keinen Kontakt mehr, aber von einer Mitschülerin, die mit ihr befreundet war, wissen sie: Stella hat jetzt einen Traum: „Sie will ihren Abschluss in Albanien machen. Und dann hierher zurückkommen.“