Kindheit in der prachtvollen Bel-Etage einer vergangenen Zeit

18.6.2014, 06:00 Uhr
Kindheit in der prachtvollen Bel-Etage einer vergangenen Zeit

© Anestis Aslanidis

„Fürchtete ich nicht den Unwillen der Götter, so würde ich sagen, ich bin glücklich.“ Der Kunsthistoriker Richard Krautheimer war 91 Jahre alt, als er diesen Satz schrieb. Er saß in Rom in der Via Gregoriana im Palazzo Zuccari, blickte auf die Bücher und Folianten, manchmal ein wenig in den Garten des Palastes oder auch auf die belebte Straße hinunter und schließlich selbstkritisch, doch auch nicht ohne gerechten Stolz auf seinen langen, verschlungenen Weg bis an diesen gesegneten, für ihn einzigartigen Ort zurück: „Aus dem unsicheren und mir nicht sehr sympathischen jungen Mann ist ein beruhigterer, aber noch nicht versteinerter alter Herr geworden, der immer noch seine Freude hat am Leben, an Dingen, an Menschen, an Freundschaft und der Liebe.“

Die Götter zürnten ihm nicht: Richard Krautheimer durfte weitere sechs Jahre glücklich in der Ewigen Stadt leben. Kurz bevor er starb, im Jahr 1994, hatte ihn Rom dann auch noch zum Ehrenbürger ernannt – vielleicht sogar auf offiziellen Antrag gerade jener Götter hin? Wer weiß . . .

Rückblende: Die Familie Krautheimer gehörte zu den gesellschaftlichen Aufsteigern der Jahrhundertwende in Fürth: klug gewählte eheliche Verbindungen, zukunftsträchtige Geschäftsideen, maßvoll-geschickte Investitionen, beste Kontakte und dezent abgehobenes Auftreten – es führte gar kein Weg vorbei an einem Platz unter den oberen knapp Hundert der florierenden Provinzstadt. Richard Krautheimers akribischem Gedächtnis verdanken wir eine der wenigen detailgenauen Beschreibungen des gehobenen Ambientes, in dem man sich so realitäts-abgewandt bewegte, als ratterte vor der Haustür nicht die Dampfbahn vom Fürther zum Nürnberger Plärrer vorbei, sondern der Salonwagen direkt in die Pariser oder Wiener Belle Epoque hinein.

In einem Brief von 1988 schreibt der da schon 90­Jährige über sein Geburtshaus in der Hornschuchpromenade: „Freilich, schön würd’ ich’s nicht nennen – eindrucksvoll, ja; charakteristisches Beispiel einer Epoche des aufkommenden Bürgertums im späten 19. Jhdt. Mein Vater ließ es 1895/96 bauen – er war damals 42 Jahre alt und hatte es von Nichts zu großem Wohlstand gebracht und das Geschäftshaus & Wohnhaus (und wohl auch ein wenig Ruhmesmal & Denkmal seiner Erfolge) sollte davon zeugen und der Architekt schwatzte ihm auf was gut und teuer war, all die Skulpturen & Ornamente im Stil einer Deutschen und Nürnbergerschen Renaissance. Um die Lage zu klären – in der Bel-Etage, etwa zehn Stufen hoch, waren die Büros von Krautheimer & Co., im Hinterhaus über den Hof weg, ein Warenlager. Im 1. Stock, mit der großen Eingangshalle, die Empfangsräume, Speisezimmer, Wohnzimmer, ,Salon‘ wie man das damals nannte, im Rückflügel Küche, Speisekammer, Wäschekammer. Im 2. Stock, die Schlafzimmer – im Rückflügel mein Zimmer, als ich so 16 Jahre war, mit Bücherschränken schon damals, Schreibtisch, Bett – das meiner Eltern über dem (oder mit?) Balkon. Im 3. Stock das Zimmer meiner (3 Jahre jüngeren) Schwester – sie wurde samt ihrem Mann deportiert und kam um; und dazu die Mädchenzimmer. Denn damals gab es noch Bedienung, Köchin, 2 Stubenmädchen, Gouvernante. Es klingt als sei es eine vergangene Welt, die Zeit vor 1914; und das ist es auch.“

Dieses Leben tauschte die jüdische Familie in den 30er Jahren zwangsläufig mit dem Exil ein, in Amerika war man in Sicherheit. Die europäische Kultur aber konnte man Richard nicht austreiben. Seit 1937 arbeitete er als Professor an verschiedenen Universitäten in den USA an einer Bestandsaufnahme der baulichen Schätze Roms: in fünf Bänden erschien bis 1977 der monumentale „Corpus Basilicarum Christianorum Roma“. Und darauf basierte dann das Buch, das ihm einen Welterfolg bescherte: „Rom – Schicksal einer Stadt“, das 1980 erschienene Alterswerk, das das Jahrtausend von 312 bis 1308 umfasst. Er hatte sich alle Schichten der Stadt erschlossen, er kannte alle Gassen und Winkel, konnte Leben und Schicksale erzählen, die sich in den und im Schatten der Kirchen entwickelt hatten.

Kreis schloss sich am Ende

Einmal noch hat sich der nicht- gläubige Jude (mit der nie verleugneten jüdischen Identität) mit seinen Wurzeln beschäftigt: Und plötzlich schloss sich der Kreis – der aus dem Vaterland geworfene Mann nahm Kontakt mit dem Ort seiner Kindheit auf. Wenn auch nur in seinen Gedanken.

Die Erforschung seiner Vergangenheit wird zu einem faszinierenden Blick auf die Geschichte der Assimilation Fürther Juden: „Die Geschäftsbücher von H. Landmann & Söhne, der Familie meiner Mutter, waren im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Firma, 1830 – 1840, noch mit hebräischen Buchstaben in Judeo-Deutsch geschrieben, man hat sie begreiflicher- wenngleich bedauerlicherweise verbrannt. Und mein Urgroßvater väterlicherseits – ,Handelsjud‘ sagt das Standesamtsblatt – sprach bestimmt Deutsch noch als Fremdsprache, für den Außenverkehr sozusagen. Erst in der Generation meines Vaters, 1854 geboren (!) und meiner mütterlichen Großeltern (. . .) begann die Assimilation – man sprach das Deutsch und wurde – das war meine Generation – patriotisch (ich war natürlich 1916-18 Kriegsfreiwilliger). Aber man hatte doch gesellschaftlich eigentlich nur Kontakt mit jüdischen Familien der gleichen sozialen Schicht; immer abgesehen von den ,großen‘ jüdischen Häusern, die überwiegend zum Christentum übergetreten waren und damit die Assimilation, wie sie glaubten, zum logischen Ende geführt hatten (. . .) Dieses ,Halb-Ghetto‘ löste sich dann nach 1920 – bei Akademikern vor allem, oder auch durch Misch-Ehen, wie die zweite Ehe meiner Mutter, mein Vater starb schon 1910. Aber dieser letzte Abschnitt der Assimilationszeit dauerte ja nur von 1920 bis 1933. Also hat die Geschichte der deutschen Juden, im Gegensatz zu der der Juden in Deutschland, doch nur von etwa 1846 bis 1933 gedauert, etwa ein Jahrhundert oder noch kürzer . . .“

Bis zum Ende war Krautheimer übrigens ein Gegner jeglicher musealen Bewahrung jüdisch-deutscher Geschichte. Ein Museum, meinte er, könne nur „paar Thora-Rollen zeigen oder auch eine gerettete Land-Synagoge; oder auch ein paar in Fürth gedruckte Bücher, die keiner mehr lesen kann oder will. Das sind doch alles Fossilien. Die Juden in Deutschland vor der Emanzipation und die Deutschen Juden sind beides ausgestorbene Spezies; und die jetzige jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik ist noch in der ,Formierung‘ begriffen. Was von vorher übrig ist, gehört in ein Archiv, für künftige Historiker; aber nicht in ein Museum.“

Er habe, schreibt er – und man meint zu spüren, wie sehr ihn der Fluss seiner eigenen Gedanken zunehmend irritiert, weil er doch längst zur Erkenntnis gekommen ist, dass auf die Götter nicht immer Verlass sein kann –, er habe lange über diese Dinge nachgedacht, freilich „als Spezimen einer ausgestorbenen Spezies“.

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