Lesen! nimmt Fahrt auf

29.6.2015, 16:36 Uhr
Lesen! nimmt Fahrt auf

© Foto: Thomas Scherer

Jan Wagner hatte die Jury der Leipziger Buchmesse überzeugt, seine „Regentonnenvariationen“ heimsten den Preis ein für die beste Lyrik. Eine Zuhörerin aber zeigt sich am Ende der Lesung nicht ganz einverstanden. Das sei sehr poetisch, kein Zweifel. Aber Lyrik?

Kurz zuvor eröffnete im Kufo-Foyer die Ausstellung „Ullstein — Im Zeichen der Eule“. Dort hatte die Künstlerin Sabine Neubauer diverse alte Ullsteinbücher aus der gelben und roten Reihe wiederaufbereitet. Soll heißen, sie hat sechs Kilo Romane in Papierpulpe verwandelt, aus der Pulpe neues Papier geschöpft und zu buchartigen Objekten verarbeitet. Aus dem industriell gefertigten Massenartikel Ullsteinbuch geht ein handgearbeitetes Unikat Marke Neubauer hervor. Das kann man sich anschauen und in den Schrank stellen. Aber lesen? Das dürfte nicht mehr funktionieren. Einige dieser Bücher hat Sabine Neubauer ausgehöhlt wie die Gefängnisbücher mit der Feile drin. Bloß dass eben keine Feile darin schlummert.

Lesen! nimmt Fahrt auf

© Foto: Hans Winckler

Stattdessen blickt der Betrachter in so ein Buch wie in einen Schacht, um an dessen Boden das Bild einer schönen Frau zu gewahren. Wohl eine Schönheit vom Umschlag. Die Titelheldin vielleicht, die wie der Froschkönig auf Erlösung harrt. Lies mich und nimm mich mit in dein Bettchen!

Wie der Froschkönig am Grunde des Brunnenschachts, so mag sich manch Zuhörer auch bei Jan Wagners Gedicht „Im Brunnen“ fühlen. Der Blick wandert nach oben, verfolgt all die Klettergewächse, die sich am Schacht hinaufwinden, nimmt den Himmel als kleinen Kreis wahr, und ab und zu wie einen Blitz einen Vogel. Es herrscht Ruhe. Bis endlich irgendwann großes Geschrei ausbricht und ein Seil herabfällt. Am Ende steht die Rückkehr ans Tageslicht.

Was dieses Gedicht so unheimlich macht, ist die absolute Unaufgeregtheit, die Vermeidung jeglicher Dramatik. Wir erfahren nicht, wie das lyrische Ich in den Brunnen gefallen ist, auch werden keine Befreiungsversuche geschildert. Stattdessen setzt Wagner auf sachliche Beobachtungen des Ortes und der Situation, und selbst die Rückkehr ans Tageslicht geschieht wie eine ganz normale Aktion. Man fragt sich: Ist der Held dieser Geschichte vielleicht ein Autist, der seine Situation verkennt? Oder aber: dient der Brunnenschacht — wie schon bei dem Lyriker Friedrich Rückert — als Parabel unseres Lebens?

Bei solchen Fragen erwartet man einen leicht entrückten oder gravitätisch daherpolternden Dichter. Überraschung! Jan Wagner, Jahrgang 1971, erweist sich als erstaunlich jungenhafter, uneitler und humorvoller Dichter, dem man sich mühelos noch als Abiturient vorzustellen vermag. Die Gegenstände seiner Gedichte sind kleine Dinge, die andere Lyriker nur mit spitzen Fingern anfassen: Unkraut wie etwa Giersch, Bettlaken, Seifenstücke. „Ich liebe Gedichte über Teebeutel oder Dinge, die man übersieht“, postuliert Wagner.

Demgegenüber beharrt Wagners Gesprächspartnerin Pia-Elisabeth Leuschner von der Münchner Stiftung Lyrik-Kabinett, dass Wagner ein Dichter sei, der seine Figuren und Dinge zum Verschwinden bringe. Ja was denn nun? Künstler und ihre Kritiker sind selten einer Meinung, und das Publikum ebenso. Nach fünf Minuten Würdigung schallt es aus dem Publikum „Nichts mehr sagen, bitte!“ Frau Leuschner schweigt pikiert, und der Dichter spricht.

Was Jan Wagner zu sagen hat, ist spannend genug. Wozu etwa braucht es Romane? „Ein Vierzeiler reicht, um die ganze Welt zusammenzubringen.“ Ein Gedicht zu schreiben, die passenden Wörter zu finden, das sei wie eine Entdeckungsfahrt, die am meisten den Dichter überrascht: „Man ist ein Sammler, der gar nicht weiß, was als nächstes auf ihn zukommt.“ Dabei gilt: „Nichts ist schlimmer als ein Reim, der sich beim Hörer aufdrängt.“ Deshalb verfolgt Wagner eine unsichtbare Reimkunst: „Worte wie ,Belämmertes' und ,blaue Mauritius' passen gut zusammen, die haben nämlich die selben Konsonanten.“

Dabei unterwirft sich der Lyriker auch vertrackten Gedichtformen wie der berüchtigten Sestine, die ständig nach der Wiederholung derselben Wortendung verlangt: „So eine Sestine ist wie ein Einmauern. Wobei man hofft, dass am Ende der letzte Ziegel auch passt.“ Ist so ein Zwang nicht hinderlich für den Dichter? Wagner winkt ab: „Man kann im Korsett besser tanzen als ohne.“

Das bewiesen im Anschluss Nora Gomringer und ihr Kompagnon Philipp Scholz. Während Gomringer Gedichte liest – sowohl eigene wie auch Heinrich Heine – rührt Scholz am Schlagzeug und an allem, was perkussive Töne von sich gibt. Gelegentlich erhebt die Dichterin ihre Stimme und singt wie eine Bardame weit nach Mitternacht, stellt Betrachtungen zur deutschen Sprache an („Ein Streitgespräch zwischen zwei Halskranken – so klingt Deutsch“) oder sinniert über „Die Frau ohne Glück zwischen den Beinen“.

Während des Vortrags braut sich draußen ein Gewitter zusammen, der Donner grollt immer näher. Beim Gedicht „Reinkarnation“ kommt es zum Höhepunkt: „Heute ich – morgen du. Müllers Esel, der wirst du!“ Auf den Punkt schallt draußen der Donnerschlag. Und Nora Gomringer vermerkt ungerührt: „Gott hört zu.“

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